Dokumentieren
Aus A-Z der transziplinären Forschung
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== '''Das Dokumentarische in der Filmwissenschaft: ein Beispiel des engagierten, gesellschaftskritischen Impetus des Dokumentierens durch das emphatische Begehren nach Realitätsbezügen''' == | == '''Das Dokumentarische in der Filmwissenschaft: ein Beispiel des engagierten, gesellschaftskritischen Impetus des Dokumentierens durch das emphatische Begehren nach Realitätsbezügen''' == | ||
− | Die Filmwissenschaft ist seit jeher mit der schwierigen Begriffsbestimmung des Dokumentarfilms beschäftigt. Dabei wird sie stets von den oben beschriebenen Aporien des Dokumentarischen heimgesucht, die hier nicht nochmals ausgebreitet werden. Wichtige Ansätze dokumentarischer Filmpraxis sollen jedoch die Ansprüche über den Funktion und Rolle des Dokumentierens exemplifizieren, im Sinne eines gesellschaftskritischen Impetus durch den Auftrag der Vermittlung und Verarbeitung von „Realität“. Als erste Dokumentarfilmtheorien werden exemplarisch Dziga Vertovs und John Griersons genannt, die traditionellerweise, die Existenz des Dokumentarischen in der Differenz zwischen Fiktion und Nicht-Fiktionalität begreifen. Beide Filmemacher versuchen sich an einer Bestimmung auf der Basis der Unterscheidung zum damals ideologisch übermächtigen fiktionalen Spielfilm und sprechen dem Dokumentarfilm, wegen dem spezifischen Wirklichkeitsbezug des Genres, eine interventionistische und sozial-engagierte Funktion zu – auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Unter dem Eindruck der revolutionären Avantgarden des Konstruktivismus, Futurismus, Biomechanik etc entwickelt Vertov die Bewegung des „Kinoki“ des „Kinoauges“. Seine „Filme der Fakten“ nehmen das Leben auf und organisieren es durch das Kameraauge und die Montage neu, so dass die Filmfakten eine neue Wahrnehmung auf die Realität freilegen, die durch das Auge nicht sichtbar ist. Nicht Wiedererkennen sondern Erkenntnis ist hier das Ziel, während die antirealistische Neuorganisierung des Materials revolutionär über die bestehende Gegenwart hinausweisen soll.18 Solche Absichten der Überwindung des Bestehenden durch dokumentarische Praxis finden sich in den Realismuskonzeptionen sämtlicher revolutionärer Avantgarden jener Zeit, wie etwa in den gleichzeitig entstandenen faktographischen Experimenten von Sergej Tetrjakov im Sinne einerÄsthetik der Transformation. Grierson wiederum ist von der neuen Macht der Sensationspresse der 20er Jahre beeinflusst und möchte mit einem pädagogischen Impetus durch Dramatisierung von Filmaufnahmen eine narrative Darstellung oder Geschichte (story) entwerfen. Der Zuschauer soll affiziert und gleichsam aufgeklärt werden, im Sinne demokratischer Partizipation und Konsensbildung in den instabilen Demokratien der 20/30er Jahre. Dieser dramatisierende Realismus mit Erziehungsauftrag ist später in das Selbstverständnis der öffentlich-rechtlichen Sender eingeflossen, findet sich im Gründungsstatut der BBC wieder und lässt sich zusammen denken mit den Bewegungen der sozialdokumentarischen Fotografie und der journalistischen Sozialreportagen jener Zeit (siehe z.B. britisches Thirties Movement etc).19 Im weiteren Sinne könnte ein Bogen geschlagen werden zum Fernsehdoku-drama und anderen journalistischen Formen wie der Fotoreportage oder dem Radiofeature. Der sozialkritische Impetus, durch Affinität zum Realismus, lässt sich weiterhin in den neorealistischen Strömungen der Nachkriegszeit wiederfinden, dem italienischen Neorealismus, der Bewegungen des cinema verité oder der des direct cinema, wo die leichte Handhabbarkeit neuer Kameras die spontanistischen Begehren einer unmittelbaren Aufnahme der Realität durch ein beobachtendes „Draufhalten“ Aufschwung gab (wohin). Die 60er und 70er spriessen natürlich von einer emphatischen Verbindung zum Realen, genannt seien hier nur die Doku-Essays von Chris Marker oder Jean Luc Godards Experimente in den französischen Banlieues mit seiner Dziga Vertov Group, wo Filme als Form kollektiver sozialer Kampfpraxis konzipiert werden sollten. Bei all diesen Beispielen dokumentarischer Praxis wird das komplexe Verhältnis zur Realität und ihrer medialen Verarbeitung und Repräsentation unterschiedlich beantwortet. Aus heutiger Sicht ist die Distanzierung zum Fiktiven nie wirklich gelungen, da das Dokumentarische immer gestaltende Elemente in sich vereinigt und damit nicht durch die Unterscheidung zu fiktionalen Formen bestimmt werden kann. Letzteres führt allerdings nicht notwendigerweise zu Unmöglichkeit einer Bezugnahme des Dokumentaristen zur Realität. Die Avantgarden des Realismus kämpfen seit jeher mit ständig sich erneuernden Konzeptionen des Wirklichkeitsbezugs, die sich je nach Stand des technischen und medialen Fortschritts sowie gesellschaftlicher und philosophischer Diskurse verändert haben. Daher wird vorgeschlagen nicht mehr um das „ob“ der realistischen Strategie zu streiten, sondern sich der ständigen Aushandlung von Realitätskonstruktionen als streitbare soziale Praxis zu widmen. Die dringende Frage, wie der Documenta 11 Kurator, es formuliert, wäre nicht die nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des dokumentarischen Realitätsbezugs, sondern die nach welchem Realismus, d.h. welche Art von sozialer, politischer und persönlicher Realität vorgeschlagen wird. 20 Die Freiheit mit der Realität als Variante des Fiktiven zu spielen und die Grenzübergänge zwischen ästhetischen und faktischen Aussagen zu verwischen, ist aber seit der Moderne natürlich der Kunst vorenthalten. ( | + | Die Filmwissenschaft ist seit jeher mit der schwierigen Begriffsbestimmung des Dokumentarfilms beschäftigt. Dabei wird sie stets von den oben beschriebenen Aporien des Dokumentarischen heimgesucht, die hier nicht nochmals ausgebreitet werden. Wichtige Ansätze dokumentarischer Filmpraxis sollen jedoch die Ansprüche über den Funktion und Rolle des Dokumentierens exemplifizieren, im Sinne eines gesellschaftskritischen Impetus durch den Auftrag der Vermittlung und Verarbeitung von „Realität“. Als erste Dokumentarfilmtheorien werden exemplarisch Dziga Vertovs und John Griersons genannt, die traditionellerweise, die Existenz des Dokumentarischen in der Differenz zwischen Fiktion und Nicht-Fiktionalität begreifen. Beide Filmemacher versuchen sich an einer Bestimmung auf der Basis der Unterscheidung zum damals ideologisch übermächtigen fiktionalen Spielfilm und sprechen dem Dokumentarfilm, wegen dem spezifischen Wirklichkeitsbezug des Genres, eine interventionistische und sozial-engagierte Funktion zu – auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Unter dem Eindruck der revolutionären Avantgarden des Konstruktivismus, Futurismus, Biomechanik etc entwickelt Vertov die Bewegung des „Kinoki“ des „Kinoauges“. Seine „Filme der Fakten“ nehmen das Leben auf und organisieren es durch das Kameraauge und die Montage neu, so dass die Filmfakten eine neue Wahrnehmung auf die Realität freilegen, die durch das Auge nicht sichtbar ist. Nicht Wiedererkennen sondern Erkenntnis ist hier das Ziel, während die antirealistische Neuorganisierung des Materials revolutionär über die bestehende Gegenwart hinausweisen soll.18 Solche Absichten der Überwindung des Bestehenden durch dokumentarische Praxis finden sich in den Realismuskonzeptionen sämtlicher revolutionärer Avantgarden jener Zeit, wie etwa in den gleichzeitig entstandenen faktographischen Experimenten von Sergej Tetrjakov im Sinne einerÄsthetik der Transformation. Grierson wiederum ist von der neuen Macht der Sensationspresse der 20er Jahre beeinflusst und möchte mit einem pädagogischen Impetus durch Dramatisierung von Filmaufnahmen eine narrative Darstellung oder Geschichte (story) entwerfen. Der Zuschauer soll affiziert und gleichsam aufgeklärt werden, im Sinne demokratischer Partizipation und Konsensbildung in den instabilen Demokratien der 20/30er Jahre. Dieser dramatisierende Realismus mit Erziehungsauftrag ist später in das Selbstverständnis der öffentlich-rechtlichen Sender eingeflossen, findet sich im Gründungsstatut der BBC wieder und lässt sich zusammen denken mit den Bewegungen der sozialdokumentarischen Fotografie und der journalistischen Sozialreportagen jener Zeit (siehe z.B. britisches Thirties Movement etc).19 Im weiteren Sinne könnte ein Bogen geschlagen werden zum Fernsehdoku-drama und anderen journalistischen Formen wie der Fotoreportage oder dem Radiofeature. Der sozialkritische Impetus, durch Affinität zum Realismus, lässt sich weiterhin in den neorealistischen Strömungen der Nachkriegszeit wiederfinden, dem italienischen Neorealismus, der Bewegungen des cinema verité oder der des direct cinema, wo die leichte Handhabbarkeit neuer Kameras die spontanistischen Begehren einer unmittelbaren Aufnahme der Realität durch ein beobachtendes „Draufhalten“ Aufschwung gab (wohin). Die 60er und 70er spriessen natürlich von einer emphatischen Verbindung zum Realen, genannt seien hier nur die Doku-Essays von Chris Marker oder Jean Luc Godards Experimente in den französischen Banlieues mit seiner Dziga Vertov Group, wo Filme als Form kollektiver sozialer Kampfpraxis konzipiert werden sollten. Bei all diesen Beispielen dokumentarischer Praxis wird das komplexe Verhältnis zur Realität und ihrer medialen Verarbeitung und Repräsentation unterschiedlich beantwortet. Aus heutiger Sicht ist die Distanzierung zum Fiktiven nie wirklich gelungen, da das Dokumentarische immer gestaltende Elemente in sich vereinigt und damit nicht durch die Unterscheidung zu fiktionalen Formen bestimmt werden kann. Letzteres führt allerdings nicht notwendigerweise zu Unmöglichkeit einer Bezugnahme des Dokumentaristen zur Realität. Die Avantgarden des Realismus kämpfen seit jeher mit ständig sich erneuernden Konzeptionen des Wirklichkeitsbezugs, die sich je nach Stand des technischen und medialen Fortschritts sowie gesellschaftlicher und philosophischer Diskurse verändert haben. Daher wird vorgeschlagen nicht mehr um das „ob“ der realistischen Strategie zu streiten, sondern sich der ständigen Aushandlung von Realitätskonstruktionen als streitbare soziale Praxis zu widmen. Die dringende Frage, wie der Documenta 11 Kurator, es formuliert, wäre nicht die nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des dokumentarischen Realitätsbezugs, sondern die nach welchem Realismus, d.h. welche Art von sozialer, politischer und persönlicher Realität vorgeschlagen wird. 20 Die Freiheit mit der Realität als Variante des Fiktiven zu spielen und die Grenzübergänge zwischen ästhetischen und faktischen Aussagen zu verwischen, ist aber seit der Moderne natürlich der Kunst vorenthalten. |
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+ | == '''Das dokumentarische Theater''' == | ||
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+ | Das dokumentarische Theater entstand in den sechziger Jahren; bekannte Beispiele sind Stücke von Rolf Hochhuth, Heinar Kipphardt und Peter Weiss. Das dokumentarische Theater übernimmt und inszeniert Quellenmaterial historischer oder aktueller (meistens politischer) Ereignisse mit der Absicht, ein Theater des Realismus mit dem Ziel der Aufklärung und Agitation zu schaffen (vgl. ''Die Ermittlung'' von Peter Weiss (vgl. Weiss 2005)). Die »Experten des Alltags« in den Stücken von Rimini Protokoll berichten aus ihrem Leben und von ihren Erfahrungen. Auch Arbeiten von Hans-Werner Kroesinger nutzen diese Funktion des Dokumentierens, in dem sie historische Originaldokumente und Augenzeugenberichte mit literarischen Texten konfrontieren (vgl. [Bezeugen]). | ||
== '''Dokumentarismus in der Kunst – documentary turn''' == | == '''Dokumentarismus in der Kunst – documentary turn''' == |