Prognostizieren
Aus A-Z der transziplinären Forschung
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Die Liste der Personen oder Personengruppen aufzuschreiben, die gegenwärtig prognostizieren oder in der Vergangenheit prognostiziert haben, wäre sehr lang. Ebenso lang würde die umfassende Liste der Verfahren ausfallen, mit denen prognostiziert wird und des Designs, mit dem Prognosen 'auf den Markt' kommen. Techniken der Zukunftsvorhersage gehören eben zu den „großen anthropologischen Konstanten von den Anfängen der Menschheitsgeschichte bis in die Gegenwart“ (Eikels 2009: 23). Prognostizieren heißt, eine Aussage über die Zukunft mit größtmöglicher Eintrittswahrscheinlichkeit zu treffen. Mit einer Prognose wird Wissen bzw. Vorwissen (griech. prognosis: Vorwissen, Vorkenntnis) über etwas präsentiert, das sich vor allem durch Nicht-Wissen(-Können) auszeichnet: die Zukunft. Da sich sogenanntes Zukunftswissen erst rückwirkend überprüfen lässt, ist es nicht der Wahrheitsgehalt einer Prognose, der ihre Wirkmächtigkeit in der Gegenwart bestimmt. Prognosen entstehen meist anwendungsbezogen und sind in konkrete Handlungsentscheidungen in der Gegenwart eingebunden. Sie werden auf Grund einer Nachfrage entwickelt oder in Auftrag gegeben und sollen Orientierungswissen für die Gegenwart liefern. Ihr Machtpotential liegt darin, Entscheidungen nicht nur zu erleichtern, sondern (bereits getroffene) Entscheidungen zu legitimieren, Aufmerksamkeiten zu steuern oder den Gegenstand der Prognose durch die Prognose selbst wahr werden zu lassen ('self-fulfilling prophecy'). | Die Liste der Personen oder Personengruppen aufzuschreiben, die gegenwärtig prognostizieren oder in der Vergangenheit prognostiziert haben, wäre sehr lang. Ebenso lang würde die umfassende Liste der Verfahren ausfallen, mit denen prognostiziert wird und des Designs, mit dem Prognosen 'auf den Markt' kommen. Techniken der Zukunftsvorhersage gehören eben zu den „großen anthropologischen Konstanten von den Anfängen der Menschheitsgeschichte bis in die Gegenwart“ (Eikels 2009: 23). Prognostizieren heißt, eine Aussage über die Zukunft mit größtmöglicher Eintrittswahrscheinlichkeit zu treffen. Mit einer Prognose wird Wissen bzw. Vorwissen (griech. prognosis: Vorwissen, Vorkenntnis) über etwas präsentiert, das sich vor allem durch Nicht-Wissen(-Können) auszeichnet: die Zukunft. Da sich sogenanntes Zukunftswissen erst rückwirkend überprüfen lässt, ist es nicht der Wahrheitsgehalt einer Prognose, der ihre Wirkmächtigkeit in der Gegenwart bestimmt. Prognosen entstehen meist anwendungsbezogen und sind in konkrete Handlungsentscheidungen in der Gegenwart eingebunden. Sie werden auf Grund einer Nachfrage entwickelt oder in Auftrag gegeben und sollen Orientierungswissen für die Gegenwart liefern. Ihr Machtpotential liegt darin, Entscheidungen nicht nur zu erleichtern, sondern (bereits getroffene) Entscheidungen zu legitimieren, Aufmerksamkeiten zu steuern oder den Gegenstand der Prognose durch die Prognose selbst wahr werden zu lassen ('self-fulfilling prophecy'). | ||
− | Der Begriff der Prognose lässt sich dabei auf die wissensbasierten und wissenschaftlichen Techniken der Zukunftsvorhersage beziehen, die sich Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge von Industrialisierung, Modernisierung und politischem Wandel herausbilden u.a. weil die „statistische Revolution“ empirische Grundlagen und stochastische Verfahren für die Erstellung wissenschaftlicher Prognosen lieferte, weil sich die Mathematisierung von Prognosen im Versicherungswesen durchsetzte, sowie auf Grund neuer Paradigmen in Biologie und Physik. (Vgl. Hartmann/Vogel 2010: 14) „Insofern entspricht die technokratisch mathematisierte Form der Prognostik (…) den Dynamiken einer modernen, sich industrialisierenden Gesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts. (Hartmann/Vogel: 8) Abgelöst hat die Prognostik die literarische Form der Utopie als Ort von Zukunftsprojektionen im 17. und 18. Jahrhundert (Vgl. Macho 2009: 248). Die Art und Weise wie und von wem prognostiziert wird, hängt immer mit gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kontexten und Nachfragen zusammen, und führt zu zeitspezifischen Konjunkturen von Prognoseverfahren. (Vgl. Hartmann/Vogel 2010: 18 ) | + | Der Begriff der Prognose lässt sich dabei auf die wissensbasierten und wissenschaftlichen Techniken der Zukunftsvorhersage beziehen, die sich Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge von Industrialisierung, Modernisierung und politischem Wandel herausbilden u.a. weil die „statistische Revolution“ empirische Grundlagen und stochastische Verfahren für die Erstellung wissenschaftlicher Prognosen lieferte, weil sich die Mathematisierung von Prognosen im Versicherungswesen durchsetzte, sowie auf Grund neuer Paradigmen in Biologie und Physik. (Vgl. Hartmann/Vogel 2010: 14) „Insofern entspricht die technokratisch mathematisierte Form der Prognostik (…) den Dynamiken einer modernen, sich industrialisierenden Gesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts. (Hartmann/Vogel: 2010: 8) Abgelöst hat die Prognostik die literarische Form der Utopie als Ort von Zukunftsprojektionen im 17. und 18. Jahrhundert (Vgl. Macho 2009: 248). Die Art und Weise wie und von wem prognostiziert wird, hängt immer mit gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kontexten und Nachfragen zusammen, und führt zu zeitspezifischen Konjunkturen von Prognoseverfahren. (Vgl. Hartmann/Vogel 2010: 18 ) |
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− | Prognostizieren als Forschungsverfahren zu begreifen, lenkt den Blick weg vom Ergebnis - dem Wissen über die Zukunft - hin auf die Verfahren der Prognose und das Wissen, das im Prozess des Prognostizierens zum Tragen kommt oder entsteht. Während in der Prognostik die Wissensbestände, auf denen Prognosen basieren, vorausgesetzt werden (z.Bsp empirische Daten), stellt sich beim Forschen in Form des Prognostizierens die Frage nach diesen Wissensbeständen neu. Welches Wissen über die Gegenwart wird im Namen der Prognose oder im Rahmen eines spezifischen Prognoseverfahrens produziert? Welches andere Wissen wird, quasi „als performativer Überschuss, als Mehr des Prognostizierens über die Prognose“, innerhalb der „Performativität ihres Erstellens“ hervorgebracht? (Brandstetter: 11) Auf diese Umkehrung deutet die Geschichte der Astronomie hin, deren Anfänge wahrscheinlich in der kultischen Verehrung der Himmelskörper liegen (Vgl. Wikipedia a) und so mit der Astrologie zusammengehören. Weil man an die Vorhersagekraft der Sterne glaubt, beginnt man die Bewegung der Sterne, die Himmelsmechanik, genau zu dokumentieren und zu errechnen. Der Glaube, die Zukunft in den Sternen lesen zu können, produziert ein Wissen, das später zur Sternenkunde wird, die die Möglichkeit hat, zwar die Bewegungen der Sterne ziemlich exakt vorherzusagen, sich aber von jeder anderen Aussagekraft über die Zukunft distanziert. (Vgl. | + | Prognostizieren als Forschungsverfahren zu begreifen, lenkt den Blick weg vom Ergebnis - dem Wissen über die Zukunft - hin auf die Verfahren der Prognose und das Wissen, das im Prozess des Prognostizierens zum Tragen kommt oder entsteht. Während in der Prognostik die Wissensbestände, auf denen Prognosen basieren, vorausgesetzt werden (z.Bsp empirische Daten), stellt sich beim Forschen in Form des Prognostizierens die Frage nach diesen Wissensbeständen neu. Welches Wissen über die Gegenwart wird im Namen der Prognose oder im Rahmen eines spezifischen Prognoseverfahrens produziert? Welches andere Wissen wird, quasi „als performativer Überschuss, als Mehr des Prognostizierens über die Prognose“, innerhalb der „Performativität ihres Erstellens“ hervorgebracht? (Brandstetter: 11) Auf diese Umkehrung deutet die Geschichte der Astronomie hin, deren Anfänge wahrscheinlich in der kultischen Verehrung der Himmelskörper liegen (Vgl. Wikipedia a) und so mit der Astrologie zusammengehören. Weil man an die Vorhersagekraft der Sterne glaubt, beginnt man die Bewegung der Sterne, die Himmelsmechanik, genau zu dokumentieren und zu errechnen. Der Glaube, die Zukunft in den Sternen lesen zu können, produziert ein Wissen, das später zur Sternenkunde wird, die die Möglichkeit hat, zwar die Bewegungen der Sterne ziemlich exakt vorherzusagen, sich aber von jeder anderen Aussagekraft über die Zukunft distanziert. (Vgl. Minis 1998: 89) |
Das Beispiel macht zugleich deutlich, dass wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Vorhersagepraktiken historisch zunächst nicht zu trennen sind. | Das Beispiel macht zugleich deutlich, dass wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Vorhersagepraktiken historisch zunächst nicht zu trennen sind. | ||
Prognostizieren als ein transdisziplinäres Forschungsverfahren zu betreiben, hat das Potential unterschiedliche prognostische Praktiken produktiv miteinander in Verbindung zu bringen, die aus historischer oder disziplinärer Perspektive getrennt voneinander auftreten oder deren Parallelen verborgen werden. Auch die Trennung zwischen wissenschaftlichen Verfahren und Alltagspraxen der Prognose steht zur Disposition. Denn nicht nur der Wissenschaftler, der Experte, der Wahrsager oder Prophet sagt vorher, sondern potentiell jeder Mensch tut dies im alltäglichen Leben und Handeln in Form von einfachen oder intuitiven Aussagen. Im Namen welcher Prognose lassen sich also welche Konstellationen von transdisziplinären Akteuren mit welcher Expertise versammeln? Welche unterschiedlichen Wissensformen können beim Prognostizieren angesprochen der zusammengetragen werden? Was erfährt man über die Prognostizierenden im Akt der Prognose, über deren Erfahrungen, Wahrnehmungsweisen, Wünsche und Ängste? | Prognostizieren als ein transdisziplinäres Forschungsverfahren zu betreiben, hat das Potential unterschiedliche prognostische Praktiken produktiv miteinander in Verbindung zu bringen, die aus historischer oder disziplinärer Perspektive getrennt voneinander auftreten oder deren Parallelen verborgen werden. Auch die Trennung zwischen wissenschaftlichen Verfahren und Alltagspraxen der Prognose steht zur Disposition. Denn nicht nur der Wissenschaftler, der Experte, der Wahrsager oder Prophet sagt vorher, sondern potentiell jeder Mensch tut dies im alltäglichen Leben und Handeln in Form von einfachen oder intuitiven Aussagen. Im Namen welcher Prognose lassen sich also welche Konstellationen von transdisziplinären Akteuren mit welcher Expertise versammeln? Welche unterschiedlichen Wissensformen können beim Prognostizieren angesprochen der zusammengetragen werden? Was erfährt man über die Prognostizierenden im Akt der Prognose, über deren Erfahrungen, Wahrnehmungsweisen, Wünsche und Ängste? | ||
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− | Anerkannt als Prognostik sind neben den 'quantitativen' aber auch die 'qualitativen' Methoden - womit Meinungen und Einschätzungen von Experten gemeint sind. Sie sollen sich von rein intuitiven Aussagen unterscheiden, weil sie auf der Grundlage von begründbarem Fach- und Erfahrungswissen und seiner Extrapolation oder mit Hilfe einer Methode getroffen werden. (Wikipedia) Allerdings sind die Grenzen zwischen zwar wissensbasierten, aber dennoch subjektiven Vorgängen wie Einschätzen und Bewerten hin zu Hoffen, Erwarten, Befürchten oder Wünschen oder eben Hellsehen fließend. Eine mehrstufige schriftliche Expertenbefragungsrunde, die von der futurologischen RAND-Corporation entwickelt wurde, nennt sich bezeichnenderweise Delphi-Methode. Ob die namentliche Referenz darauf anspielt, dass die Orakelstätten der Antike als Anlaufstellen für ein internationales Publikum grosses diplomatisches Wissen ansammeln konnten, was wiederum darüber spekulieren lässt, ob Orakelsprüche überhaupt durch inspirierte Medien oder eher durch versierte Priester mit diplomatischer Expertise formuliert wurden? (Vgl. Hackemann 2010: 35) Der prognostizierende Experte jedenfalls muss – ähnlich wie der Wahrsager – eine gute „Kompetenzdarstellungskompetenz“ (Eikels 2009: 27) performen, um seiner Aussage die notwendige Evidenz zu verleihen. | + | Anerkannt als Prognostik sind neben den 'quantitativen' aber auch die 'qualitativen' Methoden - womit Meinungen und Einschätzungen von Experten gemeint sind, die durch Verfahren wie [[Interviewen]] oder das Erstellen von Gutachten gewonnen werden. Sie sollen sich von rein intuitiven Aussagen unterscheiden, weil sie auf der Grundlage von begründbarem Fach- und Erfahrungswissen und seiner Extrapolation oder mit Hilfe einer Methode getroffen werden. (Wikipedia) Allerdings sind die Grenzen zwischen zwar wissensbasierten, aber dennoch subjektiven Vorgängen wie Einschätzen und Bewerten hin zu Hoffen, Erwarten, Befürchten oder Wünschen oder eben Hellsehen fließend. Eine mehrstufige schriftliche Expertenbefragungsrunde, die von der futurologischen RAND-Corporation entwickelt wurde, nennt sich bezeichnenderweise Delphi-Methode. Ob die namentliche Referenz darauf anspielt, dass die Orakelstätten der Antike als Anlaufstellen für ein internationales Publikum grosses diplomatisches Wissen ansammeln konnten, was wiederum darüber spekulieren lässt, ob Orakelsprüche überhaupt durch inspirierte Medien oder eher durch versierte Priester mit diplomatischer Expertise formuliert wurden? (Vgl. Hackemann 2010: 35) Der prognostizierende Experte jedenfalls muss – ähnlich wie der Wahrsager – eine gute „Kompetenzdarstellungskompetenz“ (Eikels 2009: 27) performen, um seiner Aussage die notwendige Evidenz zu verleihen. |