Bezeugen
(→Der Zuschauer als Zeuge) |
(→Bezeugen als künstlerisches Verfahren) |
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Wenn es die illokutionäre Kraft des Sprechaktes des Bezeugens ist, der kontextgebunden eine soziale Wirkmächtigkeit entfaltet, ist in Frage zu stellen, ob in einer künstlerischen Rahmung Bezeugen im engen Sinne des Wortes überhaupt geschieht oder ob es sich nicht um Beschreiben, Dokumentieren, Beweisen u.a. handelt. | Wenn es die illokutionäre Kraft des Sprechaktes des Bezeugens ist, der kontextgebunden eine soziale Wirkmächtigkeit entfaltet, ist in Frage zu stellen, ob in einer künstlerischen Rahmung Bezeugen im engen Sinne des Wortes überhaupt geschieht oder ob es sich nicht um Beschreiben, Dokumentieren, Beweisen u.a. handelt. | ||
− | In der antiken Tragödie gibt es die Zeugenfigur des Boten, der anderen Bühnenfiguren einen Bericht über Ereignisse abgibt, die auf der Bühne nicht gezeigt werden (z.B. in ''Antigone'' von Sophocles (Sophocles 1995). So erhält das Publikum Informationen, die es zum Verständnis des Handlungsfortgangs benötigt. Das Verfahren erlaubt es, eine Einheit von Ort, Zeit und Handlung zu wahren; es kann auch eingesetzt werden, um Ereignisse, die auf der Bühne nicht gezeigt werden können oder sollen darzustellen. Eine zeitgenössische Interpretation des Boten beschreibt Brecht als ein Paradigma der Episierung: In der ''Straßenszene'' berichtet der Augenzeuge eines Verkehrsunfalls anderen Passanten nachträglich vom Ablauf des Unfalls (Brecht 1993). Er spielt den Vorfall nicht mimetisch vor, sondern demonstriert lediglich entscheidende Momente und gibt die Handlungen und Haltungen verschiedener Beteiligter wieder, verkörpert diese jedoch nicht. Hier wird das Verfahren des Bezeugens eingesetzt, um die Bühnenrealität aufzubrechen und eine Distanz zu erzeugen, die dem Zuschauer eine kritische Betrachtung ermöglicht. | + | In der antiken Tragödie gibt es die Zeugenfigur des Boten, der anderen Bühnenfiguren einen Bericht über Ereignisse abgibt, die auf der Bühne nicht gezeigt werden (z.B. in ''Antigone'' von Sophocles (vgl. Sophocles: 1995). So erhält das Publikum Informationen, die es zum Verständnis des Handlungsfortgangs benötigt. Das Verfahren erlaubt es, eine Einheit von Ort, Zeit und Handlung zu wahren; es kann auch eingesetzt werden, um Ereignisse, die auf der Bühne nicht gezeigt werden können oder sollen darzustellen. Eine zeitgenössische Interpretation des Boten beschreibt Brecht als ein Paradigma der Episierung: In der ''Straßenszene'' berichtet der Augenzeuge eines Verkehrsunfalls anderen Passanten nachträglich vom Ablauf des Unfalls (vgl. Brecht: 1993). Er spielt den Vorfall nicht mimetisch vor, sondern demonstriert lediglich entscheidende Momente und gibt die Handlungen und Haltungen verschiedener Beteiligter wieder, verkörpert diese jedoch nicht. Hier wird das Verfahren des Bezeugens eingesetzt, um die Bühnenrealität aufzubrechen und eine Distanz zu erzeugen, die dem Zuschauer eine kritische Betrachtung ermöglicht. |
− | Das dokumentarische Theater entstand in den sechziger Jahren; bekannte Beispiele sind Stücke von Rolf Hochhuth, Heinar Kipphardt und Peter Weiss. Das dokumentarische Theater übernimmt und inszeniert Quellenmaterial, das historische oder aktuelle (meistens politische) Ereignisse bezeugt, mit der Absicht, ein Theater des Realismus mit dem Ziel der Aufklärung und Agitation zu schaffen. Das dokumentarische Theater kann von einer Nähe zu juristischen Formen des Bezeugens geprägt sein (vgl. ''Die Ermittlung'' von Peter Weiss (Weiss 2005)) <ref>Peter Weiss beschreibt in ''Notizen zum dokumentarischen Theater'' (1968) das dokumentarische Theater als »Theater der Berichterstattung« auf Grundlage von »Zeugnisse[n] der Gegenwart«. http://www.pohlw.de/literatur/theater/doku-txt1.htm vom 16.11.2012. (Vgl. Barton 1987 und Hilzinger 1976).</ref> . | + | Das dokumentarische Theater entstand in den sechziger Jahren; bekannte Beispiele sind Stücke von Rolf Hochhuth, Heinar Kipphardt und Peter Weiss. Das dokumentarische Theater übernimmt und inszeniert Quellenmaterial, das historische oder aktuelle (meistens politische) Ereignisse bezeugt, mit der Absicht, ein Theater des Realismus mit dem Ziel der Aufklärung und Agitation zu schaffen. Das dokumentarische Theater kann von einer Nähe zu juristischen Formen des Bezeugens geprägt sein (vgl. ''Die Ermittlung'' von Peter Weiss (vgl. Weiss: 2005)) <ref>Peter Weiss beschreibt in ''Notizen zum dokumentarischen Theater'' (1968) das dokumentarische Theater als »Theater der Berichterstattung« auf Grundlage von »Zeugnisse[n] der Gegenwart«. http://www.pohlw.de/literatur/theater/doku-txt1.htm vom 16.11.2012. (Vgl. Barton: 1987 und Hilzinger: 1976).</ref> . |
Die »Experten des Alltags« in den Stücken von Rimini Protokoll bezeugen sich selbst, indem sie aus ihrem Leben und von ihren Erfahrungen berichten. Auch Arbeiten von Hans-Werner Kroesinger nutzen diese Funktion des Bezeugens, in dem sie historische Originaldokumente und Augenzeugenberichte mit literarischen Texten konfrontieren. | Die »Experten des Alltags« in den Stücken von Rimini Protokoll bezeugen sich selbst, indem sie aus ihrem Leben und von ihren Erfahrungen berichten. Auch Arbeiten von Hans-Werner Kroesinger nutzen diese Funktion des Bezeugens, in dem sie historische Originaldokumente und Augenzeugenberichte mit literarischen Texten konfrontieren. | ||
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Die Arbeit von Walid Ra’ad und dem fiktiven Kollektiv The Atlas Group beschäftigt sich häufig mit den Möglichkeiten der Repräsentation von traumatischen Ereignissen und der Art und Weise, wie Filme, Videos und Fotos physische und psychische Gewalt bezeugen. In dem von der Atlas Group errichteten Archiv werden gefundene und eigens geschaffene fotografische, audiovisuelle und schriftliche Dokumente des libanesischen Alltags im Bürgerkrieg und heute gesammelt und in Ausstellungen präsentiert (vgl. »The Atlas Group (1989-2004)«, »The Loudest Muttering is Over«.) | Die Arbeit von Walid Ra’ad und dem fiktiven Kollektiv The Atlas Group beschäftigt sich häufig mit den Möglichkeiten der Repräsentation von traumatischen Ereignissen und der Art und Weise, wie Filme, Videos und Fotos physische und psychische Gewalt bezeugen. In dem von der Atlas Group errichteten Archiv werden gefundene und eigens geschaffene fotografische, audiovisuelle und schriftliche Dokumente des libanesischen Alltags im Bürgerkrieg und heute gesammelt und in Ausstellungen präsentiert (vgl. »The Atlas Group (1989-2004)«, »The Loudest Muttering is Over«.) | ||
− | Die künstlerische Rahmung verknüpft das Bezeugen explizit mit der Möglichkeit der Fiktion: es wird markiert und ausgestellt, dass die zu bezeugenden Sachverhalte und Fakten immer durch Selektion, Interpretation, Komposition und Präsentation hervorgebracht und hergestellt werden (das lateinische Wort ''factum'' lässt sich mit ''Tat'', ''Tatsachen'' und mit ''Verfahren'' übersetzen). So kann das Bezeugen Fiktionalisierungsprozesse initialisieren, neue Perspektiven auf scheinbar Bekanntes eröffnen und ein Oszillieren zwischen Wissen und Glauben, Vergangenheit und Gegenwart, Wahrheit und Fiktion, Präsentation und Repräsentation, Anwesendem und Abwesendem produzieren. Es stellt immer die Frage, welche »Wahrheit« bezeugt wird und eröffnet so die Möglichkeit, marginalisierten Positionen und Erfahrungen, die im herrschenden Diskurs sonst nicht zur Sprache kommen, ein Forum zu schaffen und nach alternativen Darstellungsformen des Bezeugens zu suchen. | + | Die künstlerische Rahmung verknüpft das Bezeugen explizit mit der Möglichkeit der Fiktion: es wird markiert und ausgestellt, dass die zu bezeugenden Sachverhalte und Fakten immer durch Selektion, Interpretation, Komposition und Präsentation hervorgebracht und hergestellt werden (das lateinische Wort ''factum'' lässt sich mit ''Tat'', ''Tatsachen'' und mit ''Verfahren'' übersetzen). So kann das Bezeugen Fiktionalisierungsprozesse initialisieren, neue Perspektiven auf scheinbar Bekanntes eröffnen und ein Oszillieren zwischen Wissen und Glauben, Vergangenheit und Gegenwart, Wahrheit und Fiktion, Präsentation und Repräsentation, Anwesendem und Abwesendem produzieren. Es stellt immer die Frage, welche »Wahrheit« bezeugt wird und eröffnet so die Möglichkeit, marginalisierten Positionen und Erfahrungen, die im herrschenden Diskurs sonst nicht zur Sprache kommen, ein Forum zu schaffen und nach alternativen Darstellungsformen des Bezeugens zu suchen. |
==Der Zuschauer als Zeuge== | ==Der Zuschauer als Zeuge== |