Begreifen
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Beschäftigt man sich mit dem Begreifen und Fühlen, führt die wissenschaftliche Literatur aber auch die eigene Alltagserfahrung unweigerlich zu einer Beschäftigung mit den menschlichen Sinnen im Allgemeinen und dabei auch immer wieder zu einer Hierarchisierung dieser. Die Literaturwissenschaftlerin Ulrike Zeuch stellt in ihrer Habilitationsschrift zur Umkehr der Sinneshierarchie eine „Entfremdung der Sinne vom Objekt der Wahrnehmung“ fest, welche u.a. durch die „Hierarchisierung und Aufspaltung der Sinne in einzelne Kompetenzbereiche“ hervorgeht (Zeuch 2000:7). An der Spitze dieser Hierarchie stand (und steht) der Sehsinn vor Hör-, Tast- und anderen Sinnen. Insbesondere die Gegenüberstellung von Vernunft und sinnlichem Erfahren führten zu einer Stigmatisierung sinnlicher, nicht-visueller Wahrnehmung als irrational und damit zu einem weitgehenden Ausschluss der nicht-visuellen Sinne aus dem wissenschaftlichen Feld. Ausnahme war hier stets der Sehsinn als „aufgeklärter Sinn“, dessen Verbindung zu den übrigen Sinnen bei der Gewinnung von Erkenntnis kaum diskutiert wurde. Insbesondere Seh- und Tastsinn sind bei der Diskussion der Sinneshierarchie oft als Fern- und Nahsinn gegenübergestellt worden. Allerdings wurde dem Auge neben seiner Fähigkeit zur rationalen und umfassenden Wahrnehmung gleichzeitig die größte Anfälligkeit für Täuschungen zugeschrieben, wohingegen der Tastsinn als fast untäuschbar und damit am ehesten in der Lage galt, Wirklichkeit zu erfassen. (Vgl. Zeuch 2000:16f) Weitere kulturell geprägten Zuschreibungen insbesondere an den Seh- und Tastsinn lassen sich auch in Metaphern und alltagssprachlichen Ausdrücken erkennen: So wird beim Forschen Licht ins Dunkle gebracht und das Sehen dabei als erkenntnisstiftender Sinn gestärkt. Die Hand hingegen wird häufig dann benannt, wenn es um Wahrheit und Aufrichtigkeit geht: Man gibt jemanden die Hand auf etwas oder legt sie für etwas ins Feuer. | Beschäftigt man sich mit dem Begreifen und Fühlen, führt die wissenschaftliche Literatur aber auch die eigene Alltagserfahrung unweigerlich zu einer Beschäftigung mit den menschlichen Sinnen im Allgemeinen und dabei auch immer wieder zu einer Hierarchisierung dieser. Die Literaturwissenschaftlerin Ulrike Zeuch stellt in ihrer Habilitationsschrift zur Umkehr der Sinneshierarchie eine „Entfremdung der Sinne vom Objekt der Wahrnehmung“ fest, welche u.a. durch die „Hierarchisierung und Aufspaltung der Sinne in einzelne Kompetenzbereiche“ hervorgeht (Zeuch 2000:7). An der Spitze dieser Hierarchie stand (und steht) der Sehsinn vor Hör-, Tast- und anderen Sinnen. Insbesondere die Gegenüberstellung von Vernunft und sinnlichem Erfahren führten zu einer Stigmatisierung sinnlicher, nicht-visueller Wahrnehmung als irrational und damit zu einem weitgehenden Ausschluss der nicht-visuellen Sinne aus dem wissenschaftlichen Feld. Ausnahme war hier stets der Sehsinn als „aufgeklärter Sinn“, dessen Verbindung zu den übrigen Sinnen bei der Gewinnung von Erkenntnis kaum diskutiert wurde. Insbesondere Seh- und Tastsinn sind bei der Diskussion der Sinneshierarchie oft als Fern- und Nahsinn gegenübergestellt worden. Allerdings wurde dem Auge neben seiner Fähigkeit zur rationalen und umfassenden Wahrnehmung gleichzeitig die größte Anfälligkeit für Täuschungen zugeschrieben, wohingegen der Tastsinn als fast untäuschbar und damit am ehesten in der Lage galt, Wirklichkeit zu erfassen. (Vgl. Zeuch 2000:16f) Weitere kulturell geprägten Zuschreibungen insbesondere an den Seh- und Tastsinn lassen sich auch in Metaphern und alltagssprachlichen Ausdrücken erkennen: So wird beim Forschen Licht ins Dunkle gebracht und das Sehen dabei als erkenntnisstiftender Sinn gestärkt. Die Hand hingegen wird häufig dann benannt, wenn es um Wahrheit und Aufrichtigkeit geht: Man gibt jemanden die Hand auf etwas oder legt sie für etwas ins Feuer. | ||
− | Ein weiterer Unterschied der beiden Sinne liegt in der zeitlichen sowie räumlichen Orientierung. Ist es mit dem Auge möglich, binnen Sekundenbruchteilen eine Gestalt, eine Landschaft oder einen Raum zur erfassen, so benötigen die Hände als Hauptorgan der Tastwahrnehmung mehr Zeit, um einzelne Eindrücke zu einem Gesamtbild zu fügen. Insbesondere dann, wenn von einer sehenden Person ausgegangen wird und die beiden Sinne verglichen werden, stellt die Routine des Sehens einen wichtigen Aspekt dar. Das Tasten ist in diesem Zusammenhang eher mit dem Lesen vergleichbar, wobei immer nur einzelne Teile direkt erfasst werden können. (Vgl. Mühleis 2005:96f) Das Erfassen eines Gegenstands mit dem Tastsinn erfordert immer die Bewegung des Körpers zu diesem hin. Die Verbindung zwischen dem Zeitlichen, dem | + | Ein weiterer Unterschied der beiden Sinne liegt in der zeitlichen sowie räumlichen Orientierung. Ist es mit dem Auge möglich, binnen Sekundenbruchteilen eine Gestalt, eine Landschaft oder einen Raum zur erfassen, so benötigen die Hände als Hauptorgan der Tastwahrnehmung mehr Zeit, um einzelne Eindrücke zu einem Gesamtbild zu fügen. Insbesondere dann, wenn von einer sehenden Person ausgegangen wird und die beiden Sinne verglichen werden, stellt die Routine des Sehens einen wichtigen Aspekt dar. Das Tasten ist in diesem Zusammenhang eher mit dem Lesen vergleichbar, wobei immer nur einzelne Teile direkt erfasst werden können. (Vgl. Mühleis 2005:96f) Das Erfassen eines Gegenstands mit dem Tastsinn erfordert immer die Bewegung des Körpers zu diesem hin. Die Verbindung zwischen dem Zeitlichen, dem Räumlichen und der Bewegung des Körpers schafft die taktil-kinästhetische Wahrnehmung. Diese Form der Sinneswahrnehmung „ist ein aktives und produktives Mittel sowohl der Aneignung wie der Veränderung von Wirklichkeit.“ (Liechti 2000:42) |
==Taktile Praxis== | ==Taktile Praxis== |