Messen

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Das Messen ist eine grundlegende Operation des Untersuchens und des Forschens. Naturwissenschaftliche Wissensproduktion beruht wesentlich auf Messverfahren. Nur was – gegebenenfalls auch in innovativer Weise - gemessen werden kann, kann Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschungsprozesse sein.  
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Das Messen ist eine grundlegende Operation des Untersuchens und des Forschens (1). Naturwissenschaftliche Wissensproduktion beruht wesentlich auf Messverfahren. Nur was – gegebenenfalls auch in innovativer Weise - gemessen werden kann, kann Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschungsprozesse sein.  
Im naturkundlichen Unterricht werden Kinder von Schulbeginn an in die Praxis des Messens eingeführt.  
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Im naturkundlichen Unterricht werden Kinder von Schulbeginn an in die Praxis des Messens eingeführt (2).  
  
 
Zum Messen gehören:
 
Zum Messen gehören:
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(Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Messung#Schritte_zur_Messung)
 
(Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Messung#Schritte_zur_Messung)
  
Im Unterschied dazu ist die Kunst und das Ästhetische seit dem 18. Jahrhundert als ein Bereich definiert, der sich mit dem Unmessbarem verbindet. Kant etwa definiert das Ästhetische als den Bereich, in dem keine objektiven Urteile gefällt werden können. Ästhetische Urteile sind notwendig subjektiv. Zugleich ist der Bereich des Ästhetischen aber auch durch das Fehlen persönlicher Interessen geprägt ( etwa im Unterschied zum Ökonomischen). Da die ästhetische Erfahrung also nicht durch ein unmittelbares persönliches Interesse bestimmt wird, hat das ästhetische Urteil die paradoxe Form einer subjektiven Allgemeingültigkeit. Etwas schön zu finden, heißt davon auszugehen, dass alle es schön finden müssten und doch zu wissen, dass dies eine subjektive Empfindung ist. Dies nennt Kant den ästhetischen Gemeinsinn. In diesem paradoxen Gemeinsinn ist in der bürgerlichen Tradition immer wieder die zivilisatorische Bedeutung von Kunst und Kultur gesehen worden: Da das Ästhetische einerseits außerhalb objektiver Messbarkeit und andererseits jenseits unmittelbarer Interessen steht, können Allgemeinheit und Subjektivität in der ästhetischen Erfahrung spielerisch, harmonisch und flexibel aufeinander bezogen werden.  
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Im Unterschied dazu ist die Kunst und das Ästhetische seit dem 18. Jahrhundert als ein Bereich definiert, der sich mit dem Unmessbarem verbindet. Kant etwa definiert das Ästhetische als den Bereich, in dem keine objektiven Urteile gefällt werden können (3). Ästhetische Urteile sind notwendig subjektiv. Zugleich ist der Bereich des Ästhetischen aber auch durch das Fehlen persönlicher Interessen geprägt ( etwa im Unterschied zum Ökonomischen). Da die ästhetische Erfahrung also nicht durch ein unmittelbares persönliches Interesse bestimmt wird, hat das ästhetische Urteil die paradoxe Form einer subjektiven Allgemeingültigkeit. Etwas schön zu finden, heißt davon auszugehen, dass alle es schön finden müssten und doch zu wissen, dass dies eine subjektive Empfindung ist. Dies nennt Kant den ästhetischen Gemeinsinn. In diesem paradoxen Gemeinsinn ist in der bürgerlichen Tradition immer wieder die zivilisatorische Bedeutung von Kunst und Kultur gesehen worden: Da das Ästhetische einerseits außerhalb objektiver Messbarkeit und andererseits jenseits unmittelbarer Interessen steht, können Allgemeinheit und Subjektivität in der ästhetischen Erfahrung spielerisch, harmonisch und flexibel aufeinander bezogen werden.  
 
In diesem historischen Kontext löst die Frage, ob etwas messbar ist oder nicht, und welche Form von Messung oder Evaluation als maßgeblich gelten soll, gerade im kulturellen Zusammenhang immer wieder kontroverse Debatten aus. Nichtsdestoweniger sind Kunst und Kultur in den vergangenen Jahren immer stärker mit Messungen und Evaluationen konfrontiert, die den Erfolg künstlerischer und kultureller Arbeit abbilden sollen. Vor diesem Hintergrund erscheint es als Desiderat, die Praxis des Messens als Gegenstand und als Verfahren künstlerischen und transdisziplinären Forschens näher zu erkunden.  
 
In diesem historischen Kontext löst die Frage, ob etwas messbar ist oder nicht, und welche Form von Messung oder Evaluation als maßgeblich gelten soll, gerade im kulturellen Zusammenhang immer wieder kontroverse Debatten aus. Nichtsdestoweniger sind Kunst und Kultur in den vergangenen Jahren immer stärker mit Messungen und Evaluationen konfrontiert, die den Erfolg künstlerischer und kultureller Arbeit abbilden sollen. Vor diesem Hintergrund erscheint es als Desiderat, die Praxis des Messens als Gegenstand und als Verfahren künstlerischen und transdisziplinären Forschens näher zu erkunden.  
  
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Messen als Verfahren transdisziplinären Forschens zu verstehen, heißt also Messverfahren nicht mehr als gegeben betrachtet und lediglich anzuwenden, sondern das Messen als jeweils neu zu erfindendes performatives Protokoll und Setup zu betrachten. Und umgekehrt: Sobald es darum geht, ein neues Messverfahren zu erfinden, sei es für etwas, das bisher nicht gemessen wird, oder sei es, um den medialen und performativen Charakter eines gegebenen Messverfahrens zu verändern, ist dies ein transdisziplinärer Forschungsprozess. Produkt dieses transdisziplinären Forschungsprozesses ist jedoch nicht nur das Messverfahren selbst bzw. die gemessenen Daten. Produziert und in Frage gestellt werden in einem solchen Prozess auch Konzepte über die Welt und/bzw. Netzwerke von Akteuren. Sobald eines dieser Konzepte bzw. eines dieser Netzwerke dazu taugt, ein valides, also überzeugendes Messverfahren zu tragen, gilt es als gegeben, als evident.  
 
Messen als Verfahren transdisziplinären Forschens zu verstehen, heißt also Messverfahren nicht mehr als gegeben betrachtet und lediglich anzuwenden, sondern das Messen als jeweils neu zu erfindendes performatives Protokoll und Setup zu betrachten. Und umgekehrt: Sobald es darum geht, ein neues Messverfahren zu erfinden, sei es für etwas, das bisher nicht gemessen wird, oder sei es, um den medialen und performativen Charakter eines gegebenen Messverfahrens zu verändern, ist dies ein transdisziplinärer Forschungsprozess. Produkt dieses transdisziplinären Forschungsprozesses ist jedoch nicht nur das Messverfahren selbst bzw. die gemessenen Daten. Produziert und in Frage gestellt werden in einem solchen Prozess auch Konzepte über die Welt und/bzw. Netzwerke von Akteuren. Sobald eines dieser Konzepte bzw. eines dieser Netzwerke dazu taugt, ein valides, also überzeugendes Messverfahren zu tragen, gilt es als gegeben, als evident.  
  
In der Performance Kunst finden sich Bezüge zur Praxis des Messens zunächst vor allem in der FLUXUS Bewegung der 1960er Jahre (insbesondere FLUXUS Klinik). Hier wird das Messen als performatives Geschehen sichtbar; der Bezug auf das Messen bleibt dabei zunächst kritisch bis satirisch. Im Kontext aktueller Kunstpraxen gibt es jedoch auch andere Beispiele:   
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In der Performance Kunst finden sich Bezüge zur Praxis des Messens zunächst vor allem in der FLUXUS Bewegung der 1960er Jahre (insbesondere FLUXUS Klinik) (4). Hier wird das Messen als performatives Geschehen sichtbar; der Bezug auf das Messen bleibt dabei zunächst kritisch bis satirisch. Im Kontext aktueller Kunstpraxen gibt es jedoch auch andere Beispiele:   
  
 
Roman Ondak – Measuring the Universe, New York 2009  
 
Roman Ondak – Measuring the Universe, New York 2009  
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http://www.instituteofmaking.org.uk/research/sensoaesthetic-materials
 
http://www.instituteofmaking.org.uk/research/sensoaesthetic-materials
  
Hier zeigt sich die Performativität des Messens: Messungen setzen kontrollierte Mess-Szenarien voraus, die mit bestimmten Rollen (Autorität) und Protokollen (Aktion) verbunden sind. In hybriden, künstlerisch-wissenschaftlichen Kontexten eingesetzt, produzieren solche Mess-Szenarien nicht nur Messergebnisse, also Daten, sondern werden zugleich als Erfahrungsräume gestaltet und wahrgenommen. Neben den Messergebnissen im engeren Sinne können Messungen daher auch die aisthetische Wahrnehmung bestimmter Zusammenhänge steigern (siehe Zoe Laughlin Spoons im Hinblick auf den Geschmack). Darüber hinaus können innovative Mess-Szenarien als Interventionen in gegebene soziale Strukturen verstanden werden (siehe Forschungstheater Kinder testen Schule). Auch die Messergebnisse selbst können mehrdimensional erscheinen – beispielsweise als Spuren der Messaktion selbst (siehe Roman Ondak Measuring the Universe).   
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Hier zeigt sich die Performativität des Messens: Messungen setzen kontrollierte Mess-Szenarien voraus, die mit bestimmten Rollen (Autorität) und Protokollen (Aktion) verbunden sind. In hybriden, künstlerisch-wissenschaftlichen Kontexten eingesetzt, produzieren solche Mess-Szenarien nicht nur Messergebnisse, also Daten, sondern werden zugleich als Erfahrungsräume gestaltet und wahrgenommen. Neben den Messergebnissen im engeren Sinne können Messungen daher auch die aisthetische Wahrnehmung bestimmter Zusammenhänge steigern (siehe Zoe Laughlin Spoons im Hinblick auf den Geschmack)(5). Darüber hinaus können innovative Mess-Szenarien als Interventionen in gegebene soziale Strukturen verstanden werden (siehe Forschungstheater [Kinder testen Schule][http://www.fundus-theater.de/forschungstheater/projekte/kinder-testen-schule/]). Auch die Messergebnisse selbst können mehrdimensional erscheinen – beispielsweise als Spuren der Messaktion selbst (siehe Roman Ondak Measuring the Universe).   
  
 
Ein möglicher Kontext für die künstlerisch-wissenschaftliche bzw. transdisziplinäre Forschung an und mit Praktiken des Messens ergibt sich aus der jüngsten Debatte um die Messung von Well Being: Im Zusammenhang mit der Finanzkrise fordern namhafte PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen seit 2007 die Entwicklung von neuen Messverfahren für die Ermittlung der Daten, die politisches Handeln leiten sollen. Zu diesem Zweck hat die französische Regierung beispielsweise eine aus Nobelpreisträgern bestehende Kommission, die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission, eingerichtet. In ihrem Bericht spricht sich die Kommission gegen die bisher zentrale Rolle des Bruttoinlandprodukts zur Messung des gesellschaftlichen „Well Beings“ aus. In Empfehlung 6 heißt es:   
 
Ein möglicher Kontext für die künstlerisch-wissenschaftliche bzw. transdisziplinäre Forschung an und mit Praktiken des Messens ergibt sich aus der jüngsten Debatte um die Messung von Well Being: Im Zusammenhang mit der Finanzkrise fordern namhafte PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen seit 2007 die Entwicklung von neuen Messverfahren für die Ermittlung der Daten, die politisches Handeln leiten sollen. Zu diesem Zweck hat die französische Regierung beispielsweise eine aus Nobelpreisträgern bestehende Kommission, die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission, eingerichtet. In ihrem Bericht spricht sich die Kommission gegen die bisher zentrale Rolle des Bruttoinlandprodukts zur Messung des gesellschaftlichen „Well Beings“ aus. In Empfehlung 6 heißt es:   
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Ein hier ansetzendes transdisziplinäres Forschungsprojekt findet gegenwärtig (Stand 2014) am Forschungstheater im FUNDUS THEATER unter dem Titel „Well Being – das gute Leben mit Kindern messen“ statt. Im Rahmen des Projekts beschäftig sich eine Gruppe aus Kindern, Künstler_innen, Studierenden und Wissenschaftler_innen mit der Erfindung neuer Messverfahren im Kontext von Well Being. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der kreativen Erfindung von Messpraktiken zur Anregung und Unterstützung kollektiver Steuerungsprozesse des täglichen Lebens in Schulen, Betrieben, Nachbarschaften etc.
 
Ein hier ansetzendes transdisziplinäres Forschungsprojekt findet gegenwärtig (Stand 2014) am Forschungstheater im FUNDUS THEATER unter dem Titel „Well Being – das gute Leben mit Kindern messen“ statt. Im Rahmen des Projekts beschäftig sich eine Gruppe aus Kindern, Künstler_innen, Studierenden und Wissenschaftler_innen mit der Erfindung neuer Messverfahren im Kontext von Well Being. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der kreativen Erfindung von Messpraktiken zur Anregung und Unterstützung kollektiver Steuerungsprozesse des täglichen Lebens in Schulen, Betrieben, Nachbarschaften etc.
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Anmerkungen:
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(1) Hans-Dieter Hausteiner: ''Weltchronik des Messens. Eine Universalgeschichte von Maß und Zahl, Geld und Gewicht''. Berlin 2001.
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(2) In ihrem Buch ''Schule des Staunens'' (Heidelberg 2009) schildert beispielsweise Salman Ansari, wie Kinder auf der Schwelle zwischen naturkundlicher und kultureller Bildung erste Erfahrungen mit der Kunst des Messens machen können.
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(3) Vgl. Immanuel Kant, ''Kritik der Urteilskraft'' §20 bis 22.
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(4) Vgl. Ina Blom, "Boredom and Oblivion", in: Ken Friedman (Hg.), ''The Fluxus Reader'', New York u.a. 1998, S. 63-90
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(5) Zoe Laughlin, "Jenseits des Musters. Forschen in der Materials Library", in: Sibylle Peters (Hg.), ''Das Forschen Aller, Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft'', Bielefeld 2013, S. 125-145.

Aktuelle Version vom 1. Mai 2014, 10:33 Uhr

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