Bewegen
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== '''''Ping Pong''''' == | == '''''Ping Pong''''' == | ||
− | Leere Bühne, von bühnen-links tritt auf: ein weißer Tischtennis-Ball, der mit mittlerer Geschwindigkeit über die Bühne rollt. Einige Sekunden später wiederholt sich der Vorgang, doch kommt der Ball dieses Mal von bühnen-rechts, rollt in langsamem Tempo aus und bleibt bühnenmittig stehen. In schneller Folge rasen nun einzelne Bälle von bühnen-rechts nach bühnen-links. Einige Bälle haben eine größere Distanz zum ruhenden Tischtennisball, andere wiederum rollen dicht vor und hinter ihm vorbei. Schließlich trifft ein Ball den ruhenden Ball, versetzt ihn mit dem Aufprall wieder in Bewegung und lenkt ihn diagonal nach bühnen-links-hinten ab, wo er wieder zum Stillstand kommt. Die ist der Beginn der Choreographie ''Ping Pong'' (2009) von Begüm Erciyas, einer Versuchsanordnung, die die physischen Bewegungseigenschaften und das kinetische und dynamische Bewegungsverhalten von Tischtennisbällen untersucht. Die Tischtennisbälle benötigen einen Auslöser, der sie in Bewegung setzt. In Ping Pong übernehmen dies die beiden Tänzer sowie die seitlich, für das Publikum nicht sichtbar aufgestellten Ventilatoren, die die Bälle mit dem von ihnen durch Strom erzeugten Wind immer wieder von der Bühne treiben. Für bewegen als Tätigkeitsbezeichnung bedeutet dies: Einen Gegenstand/Körper bzw. sich selbst zu bewegen also eine Ortsveränderung zu bewirken, verlangt immer den Einsatz von Energie. Bewegt sich ein Körper durch den Raum, kann es zu Begegnungen mit anderen – statischen oder sich in Bewegung befindenden – Körpern kommen. Das Aufeinandertreffen in einer Kollision (hier der Tischtennisbälle) überträgt Energie und bremst Körper aus, verändert ihre Position bzw. Richtung und Dynamik und kann auch zur Verformung des Materials führen. Bewegen besitzt ein andere Körper affizierendes Potential, das in der Lage ist, auch unfreiwillige (Re-)Aktionen hervorzurufen und Körper aus der Ruhe – physikalisch eine Bewegung mit der Geschwindigkeit Null – zu bringen. Bewegen beinhaltet damit Unkontrollierbarkeit bzw. Risiko und damit einen möglichen Kontrollverlust. Gleichzeitig bewirkt es als motorischer bzw. physikalischer Vorgang eine Positionsveränderung in Raum und Zeit. Damit verbunden ist die Veränderung des Blickwinkels als ein durch die veränderte Position im Raum bedingter Perspektivwechsel. ''Ping Pong'' verdeutlicht, wie bewegen als szenische und künstlerische Forschungsmethode nicht nur die Materialeigenschaften und das Bewegungsverhalten eines Körpers (hier der Tischtennisbälle) untersucht und daraus eine Choreographie entwickelt. Die Choreographie selbst macht Energieeinsatz und -übertragung, Perspektiv- und Positionswechsel und damit Veränderung als grundlegende Aspekte von bewegen sichtbar: ''Bewegung ist, wie Aristoteles sie in der Metaphysik bestimmt, Veränderung: ‚Veränderung aus etwas in etwas anderes’'' (Wortelkamp | + | Leere Bühne, von bühnen-links tritt auf: ein weißer Tischtennis-Ball, der mit mittlerer Geschwindigkeit über die Bühne rollt. Einige Sekunden später wiederholt sich der Vorgang, doch kommt der Ball dieses Mal von bühnen-rechts, rollt in langsamem Tempo aus und bleibt bühnenmittig stehen. In schneller Folge rasen nun einzelne Bälle von bühnen-rechts nach bühnen-links. Einige Bälle haben eine größere Distanz zum ruhenden Tischtennisball, andere wiederum rollen dicht vor und hinter ihm vorbei. Schließlich trifft ein Ball den ruhenden Ball, versetzt ihn mit dem Aufprall wieder in Bewegung und lenkt ihn diagonal nach bühnen-links-hinten ab, wo er wieder zum Stillstand kommt. Die ist der Beginn der Choreographie ''Ping Pong'' (2009) von Begüm Erciyas, einer Versuchsanordnung, die die physischen Bewegungseigenschaften und das kinetische und dynamische Bewegungsverhalten von Tischtennisbällen untersucht. Die Tischtennisbälle benötigen einen Auslöser, der sie in Bewegung setzt. In Ping Pong übernehmen dies die beiden Tänzer sowie die seitlich, für das Publikum nicht sichtbar aufgestellten Ventilatoren, die die Bälle mit dem von ihnen durch Strom erzeugten Wind immer wieder von der Bühne treiben. Für bewegen als Tätigkeitsbezeichnung bedeutet dies: Einen Gegenstand/Körper bzw. sich selbst zu bewegen also eine Ortsveränderung zu bewirken, verlangt immer den Einsatz von Energie. Bewegt sich ein Körper durch den Raum, kann es zu Begegnungen mit anderen – statischen oder sich in Bewegung befindenden – Körpern kommen. Das Aufeinandertreffen in einer Kollision (hier der Tischtennisbälle) überträgt Energie und bremst Körper aus, verändert ihre Position bzw. Richtung und Dynamik und kann auch zur Verformung des Materials führen. Bewegen besitzt ein andere Körper affizierendes Potential, das in der Lage ist, auch unfreiwillige (Re-)Aktionen hervorzurufen und Körper aus der Ruhe – physikalisch eine Bewegung mit der Geschwindigkeit Null – zu bringen. Bewegen beinhaltet damit Unkontrollierbarkeit bzw. Risiko und damit einen möglichen Kontrollverlust. Gleichzeitig bewirkt es als motorischer bzw. physikalischer Vorgang eine Positionsveränderung in Raum und Zeit. Damit verbunden ist die Veränderung des Blickwinkels als ein durch die veränderte Position im Raum bedingter Perspektivwechsel. ''Ping Pong'' verdeutlicht, wie bewegen als szenische und künstlerische Forschungsmethode nicht nur die Materialeigenschaften und das Bewegungsverhalten eines Körpers (hier der Tischtennisbälle) untersucht und daraus eine Choreographie entwickelt. Die Choreographie selbst macht Energieeinsatz und -übertragung, Perspektiv- und Positionswechsel und damit Veränderung als grundlegende Aspekte von bewegen sichtbar: ''Bewegung ist, wie Aristoteles sie in der Metaphysik bestimmt, Veränderung: ‚Veränderung aus etwas in etwas anderes’'' (Wortelkamp 2010: 271). |
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Eine Gruppe aus ca. 45 Personen besteigt den Ladebereich eines zum Zuschauerraum umgebauten LKWs, in dem sie anschließend in Begleitung zweier bulgarischer Performer, von Beruf LKW-Fahrer, zwei Stunden durch Basel fährt. Die Zuschauenden sitzen auf einer kleinen Tribüne im inneren des LKWs in einem 90-Grad-Winkel zur Fahrtrichtung. Die Längsseite der LKW-Ladefläche auf Beifahrerseite ist sowohl Fenster in die Stadt als auch Projektionsfläche für eingespielte Videos. Die Route führt an Orten entlang, die mit Transport, Ladung, Logistik, Warenumschlag assoziiert sind. | Eine Gruppe aus ca. 45 Personen besteigt den Ladebereich eines zum Zuschauerraum umgebauten LKWs, in dem sie anschließend in Begleitung zweier bulgarischer Performer, von Beruf LKW-Fahrer, zwei Stunden durch Basel fährt. Die Zuschauenden sitzen auf einer kleinen Tribüne im inneren des LKWs in einem 90-Grad-Winkel zur Fahrtrichtung. Die Längsseite der LKW-Ladefläche auf Beifahrerseite ist sowohl Fenster in die Stadt als auch Projektionsfläche für eingespielte Videos. Die Route führt an Orten entlang, die mit Transport, Ladung, Logistik, Warenumschlag assoziiert sind. | ||
Das Road Movie als Filmgenre verbindet in metaphorischer Weise die Verschränkung von zurückgelegter räumlicher Strecke und Narration/Inhalt als innerem, metaphorischem Weg der Protagonisten. Die Suche nach Freiheit oder/und die Flucht vor Verfolgung sind wesentliche Motive der meist allein bzw. in einer kleinen Gruppe fahrenden Protagonisten. Die äußere Reise durch ein häufig karge Landschaft mit metaphorischen wie tatsächlichen Kreuzungs- und Knotenpunkten wird dabei zum Sinnbild der inneren Reise der Fahrenden/Flüchtenden, die unterwegs eine wichtige Entscheidung treffen, einen inneren Konflikt und damit verbunden eine persönliche Veränderung durchlaufen oder eine neue Sichtweise bzw. eine neue Erkenntnis gewinnen. Die Verknüpfung von bewegt werden durch bzw. in einem Verkehrsmittel und Erkenntnisgewinn bzw. Perspektiveränderung ist übertragbar auf ''Cargo Sofia–X'', das gleichsam als eine Art theatrales Road Movie betrachtet werden kann: Dem inneren-äußeren Prozess des Bewegens im Road Movie ähnlich, ''er-fährt'' der Zuschauende eine räumliche Distanz und erhält zugleich Einblick in die Touren der zwei LKW-Fahrer quer durch Europa. Im besten Fall wird der Zuschauer also nicht nur als Körper im LKW durch den Stadtraum transportiert, sondern auch innerlich bewegt – berührt, zum Nachdenken angeregt – und damit einer doppelten Positionsveränderung ausgesetzt, die mit und auf dem Weg durch die Stadt neue Perspektiven – auf den Beruf des LKW-Fahrers, den Verkehr und Warentransport in Europa und die eigenen Stadt – eröffnen kann. | Das Road Movie als Filmgenre verbindet in metaphorischer Weise die Verschränkung von zurückgelegter räumlicher Strecke und Narration/Inhalt als innerem, metaphorischem Weg der Protagonisten. Die Suche nach Freiheit oder/und die Flucht vor Verfolgung sind wesentliche Motive der meist allein bzw. in einer kleinen Gruppe fahrenden Protagonisten. Die äußere Reise durch ein häufig karge Landschaft mit metaphorischen wie tatsächlichen Kreuzungs- und Knotenpunkten wird dabei zum Sinnbild der inneren Reise der Fahrenden/Flüchtenden, die unterwegs eine wichtige Entscheidung treffen, einen inneren Konflikt und damit verbunden eine persönliche Veränderung durchlaufen oder eine neue Sichtweise bzw. eine neue Erkenntnis gewinnen. Die Verknüpfung von bewegt werden durch bzw. in einem Verkehrsmittel und Erkenntnisgewinn bzw. Perspektiveränderung ist übertragbar auf ''Cargo Sofia–X'', das gleichsam als eine Art theatrales Road Movie betrachtet werden kann: Dem inneren-äußeren Prozess des Bewegens im Road Movie ähnlich, ''er-fährt'' der Zuschauende eine räumliche Distanz und erhält zugleich Einblick in die Touren der zwei LKW-Fahrer quer durch Europa. Im besten Fall wird der Zuschauer also nicht nur als Körper im LKW durch den Stadtraum transportiert, sondern auch innerlich bewegt – berührt, zum Nachdenken angeregt – und damit einer doppelten Positionsveränderung ausgesetzt, die mit und auf dem Weg durch die Stadt neue Perspektiven – auf den Beruf des LKW-Fahrers, den Verkehr und Warentransport in Europa und die eigenen Stadt – eröffnen kann. | ||
− | ''Cargo Sofia–X'' verbindet über ''bewegen'' als Verfahren die räumliche Positionsveränderung eines Körpers in Raum und Zeit mit der inneren Bewegung als einer Erfahrung bzw. eines inneren Mitgehens mit dem Erlebten: „In der Theatergeschichte wird Bewegung meist über eine Mittlerfunktion zwischen inneren und äußeren Vorgängen bestimmt“ (van Eickels/Matzke/Wortelkamp | + | ''Cargo Sofia–X'' verbindet über ''bewegen'' als Verfahren die räumliche Positionsveränderung eines Körpers in Raum und Zeit mit der inneren Bewegung als einer Erfahrung bzw. eines inneren Mitgehens mit dem Erlebten: „In der Theatergeschichte wird Bewegung meist über eine Mittlerfunktion zwischen inneren und äußeren Vorgängen bestimmt“ (van Eickels/Matzke/Wortelkamp 2005: 33). |
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== '''Bewegen''' == | == '''Bewegen''' == | ||
Das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache [http://www.dwds.de/?qu=bewegen&view=1] erläutert die Wortherkunft des Verbs bewegen in einer Verbindung der physikalischen Bedeutungsebenen von bewegen als räumlicher Positionsveränderung und Gewichtsbestimmung mit der inneren, emotionalen bzw. mentalen Willens-, Meinungs- oder Perspektivveränderung, die mit dem Verlust von Ruhe – emotional wie physikalisch – verknüpft ist. Als Wortbestandteil verweist die Vorsilbe "be" darauf, „dass eine Person oder Sache mit etwas versehen wird, ist“ [http://www.duden.de/rechtschreibung/be_#Bedeutung2], d.h., dieser Körper ist einem externen Einfluss ausgesetzt. Das Substantiv "Weg" wiederum bezeichnet einen Streifen zum Begehen oder Befahren bzw. eine Richtung, die Strecke, den Gang sowie die Art und Weise des Vorgehens. Die Annäherung an die Wortbedeutung von bewegen unterstützt somit die aus den zwei beschriebenen Stücken abgeleitete Begriffsbestimmung: Durch Einwirkung von außen bzw. Aufwendung von Energie verursacht bewegen als gekoppelt äußerer-innerer Vorgang eine Veränderung der Position, die nicht ohne Verlust von (physikalischer bzw. emotionaler) Ruhe erfolgen kann. Diese Veränderung als messbarer und zugleich symbolischer Weg steht in Beziehung zur zurückgelegten Distanz und der dabei vergangenen Zeit. | Das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache [http://www.dwds.de/?qu=bewegen&view=1] erläutert die Wortherkunft des Verbs bewegen in einer Verbindung der physikalischen Bedeutungsebenen von bewegen als räumlicher Positionsveränderung und Gewichtsbestimmung mit der inneren, emotionalen bzw. mentalen Willens-, Meinungs- oder Perspektivveränderung, die mit dem Verlust von Ruhe – emotional wie physikalisch – verknüpft ist. Als Wortbestandteil verweist die Vorsilbe "be" darauf, „dass eine Person oder Sache mit etwas versehen wird, ist“ [http://www.duden.de/rechtschreibung/be_#Bedeutung2], d.h., dieser Körper ist einem externen Einfluss ausgesetzt. Das Substantiv "Weg" wiederum bezeichnet einen Streifen zum Begehen oder Befahren bzw. eine Richtung, die Strecke, den Gang sowie die Art und Weise des Vorgehens. Die Annäherung an die Wortbedeutung von bewegen unterstützt somit die aus den zwei beschriebenen Stücken abgeleitete Begriffsbestimmung: Durch Einwirkung von außen bzw. Aufwendung von Energie verursacht bewegen als gekoppelt äußerer-innerer Vorgang eine Veränderung der Position, die nicht ohne Verlust von (physikalischer bzw. emotionaler) Ruhe erfolgen kann. Diese Veränderung als messbarer und zugleich symbolischer Weg steht in Beziehung zur zurückgelegten Distanz und der dabei vergangenen Zeit. | ||
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== '''Bewegtes Publikum''' == | == '''Bewegtes Publikum''' == | ||
Der Blick auf Wortbedeutungen und Konnotationen macht deutlich, warum bewegen als künstlerisches Arbeits- und Forschungsverfahren doppelt interessant ist und Anknüpfungspunkte für transdisziplinäre Prozesse bietet, die Teilnehmende mit verschiedenen Erfahrungen und Kenntnissen in einen gemeinsamen Erkenntnisweg einzubinden vermag: Bewegen eröffnet die Möglichkeit, im gemeinsamen Zurücklegen eines (metaphorischen oder tatsächlichen) Weges unter Einfluss externer Faktoren und unter Aufwendung von Energie bzw. Einsatz aller Beteiligten durch eine räumliche bzw. innere Positionsveränderung eine neue Perspektive bzw. Erfahrung zu eröffnen. Dies wiederum ist schon immer ein zentrales Anliegen von Theater: Bedingt durch ihre kopräsente Aufführungssituation haben die performativen Künste große Erfahrung in der Herstellung von Situationen der Teilhabe (Primavesi 2008: 87). Mit Blick auf bewegen als künstlerischem Verfahren kann die Teilhabe an einer Aufführungssituation als gemeinsamer performativer Weg aller in der Situation Anwesenden verstanden werden, der sich als Wechselverhältnis von bewegen und bewegt werden darstellt. | Der Blick auf Wortbedeutungen und Konnotationen macht deutlich, warum bewegen als künstlerisches Arbeits- und Forschungsverfahren doppelt interessant ist und Anknüpfungspunkte für transdisziplinäre Prozesse bietet, die Teilnehmende mit verschiedenen Erfahrungen und Kenntnissen in einen gemeinsamen Erkenntnisweg einzubinden vermag: Bewegen eröffnet die Möglichkeit, im gemeinsamen Zurücklegen eines (metaphorischen oder tatsächlichen) Weges unter Einfluss externer Faktoren und unter Aufwendung von Energie bzw. Einsatz aller Beteiligten durch eine räumliche bzw. innere Positionsveränderung eine neue Perspektive bzw. Erfahrung zu eröffnen. Dies wiederum ist schon immer ein zentrales Anliegen von Theater: Bedingt durch ihre kopräsente Aufführungssituation haben die performativen Künste große Erfahrung in der Herstellung von Situationen der Teilhabe (Primavesi 2008: 87). Mit Blick auf bewegen als künstlerischem Verfahren kann die Teilhabe an einer Aufführungssituation als gemeinsamer performativer Weg aller in der Situation Anwesenden verstanden werden, der sich als Wechselverhältnis von bewegen und bewegt werden darstellt. | ||
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== '''Bewegungsmaterial''' == | == '''Bewegungsmaterial''' == | ||
Die Choreographie Wallen (Sebastian Matthias, 2012) geht von emotionalen Regungen als Grundlage tänzerischen, also bewegten Handelns, das mit und durch die Bewegung andere Körper affiziert. Die Zuschauenden sitzen auf Drehstühlen, die in inselartigen Gruppierungen über den Aufführungsraum verteilt sind. Die Drehstühle ermöglichen es, die eigene Perspektive permanent zu verändern und den Tänzern nicht nur mit den Blicken, sondern auch mit dem sich sitzend-drehenden eigenen Körper zu folgen. Damit sind die Zuschauenden in das Bewegungsgeflecht der Aufführung eingebunden. Ähnlich dem LKW in ''Cargo Sofia–X'' ist der Drehstuhl eine Art Transportmittel des Zuschauers. Das Bewegungsmaterial also, das durch seine spezifische Form und Nutzung die (Fort-)Bewegung ermöglicht, aber diese auch in der Art ihrer Bewegungsqualität formt und bedingt. Es ist gleichzeitig Auslöser und Verstärker der inneren sowie physischen Beteiligung der Zuschauenden. Das Bewegungsmaterial kann sowohl Objekt/Körper als auch Text, Thema oder Idee und damit Ausgangspunkt und Anlass von bewegen sein. Die Wahl und Definition des Bewegungsmaterials für den künstlerischen Prozess von bewegen eröffnet dabei eine Zugangsmöglichkeit, die motorische oder tanztechnische Erfahrung nicht als grundlegend für die Beteiligung setzt, sondern vielmehr durch einen niedrigschwelligen Ansatz als transdisziplinäres Verfahren Personen mit unterschiedlichen Erfahrungs- und Wissenshintergründen bereits in den künstlerischen Arbeitsprozess einzubeziehen vermag. | Die Choreographie Wallen (Sebastian Matthias, 2012) geht von emotionalen Regungen als Grundlage tänzerischen, also bewegten Handelns, das mit und durch die Bewegung andere Körper affiziert. Die Zuschauenden sitzen auf Drehstühlen, die in inselartigen Gruppierungen über den Aufführungsraum verteilt sind. Die Drehstühle ermöglichen es, die eigene Perspektive permanent zu verändern und den Tänzern nicht nur mit den Blicken, sondern auch mit dem sich sitzend-drehenden eigenen Körper zu folgen. Damit sind die Zuschauenden in das Bewegungsgeflecht der Aufführung eingebunden. Ähnlich dem LKW in ''Cargo Sofia–X'' ist der Drehstuhl eine Art Transportmittel des Zuschauers. Das Bewegungsmaterial also, das durch seine spezifische Form und Nutzung die (Fort-)Bewegung ermöglicht, aber diese auch in der Art ihrer Bewegungsqualität formt und bedingt. Es ist gleichzeitig Auslöser und Verstärker der inneren sowie physischen Beteiligung der Zuschauenden. Das Bewegungsmaterial kann sowohl Objekt/Körper als auch Text, Thema oder Idee und damit Ausgangspunkt und Anlass von bewegen sein. Die Wahl und Definition des Bewegungsmaterials für den künstlerischen Prozess von bewegen eröffnet dabei eine Zugangsmöglichkeit, die motorische oder tanztechnische Erfahrung nicht als grundlegend für die Beteiligung setzt, sondern vielmehr durch einen niedrigschwelligen Ansatz als transdisziplinäres Verfahren Personen mit unterschiedlichen Erfahrungs- und Wissenshintergründen bereits in den künstlerischen Arbeitsprozess einzubeziehen vermag. | ||
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== '''''Entropisches Institut''''' == | == '''''Entropisches Institut''''' == | ||
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Ausgestattet mit je einem Set beschriebener Karteikarten betritt eine Personengruppe einen Raum, der mit einer rechteckigen, grünen Teppichfläche ausgelegt ist. Jede Karte beinhaltet einen Handlungsvorschlag, den die Teilnehmenden im Laufe des nun folgenden ''Choreographischen Konzerts'' als Teil des "Entropischen Instituts" (deufert&plischke, Berlin 2012) ausführen können. Auch das Tauschen der Karten mit anderen Teilnehmenden ist möglich. In dem Moment, in dem die Gruppe den Raum betritt, werden sie zu Teilnehmenden, zu den Tänzern des Konzerts, das ohne sie nicht stattfinden kann und in dem sie frei sind, den Bewegungsaufforderungen zu folgen. Zuschauen als ausschließliche Funktion ist nicht vorgesehen, vielmehr erfordert das eigene Handeln als Umsetzung der Bewegungsvorschläge auf den Karten das genaue Zusehen und Beobachten der anderen Teilnehmenden im Raum. In den folgenden ca. 20 Minuten entwickelt sich aus den Bewegungsoptionen, die die Karten als Bewegungsmaterial eröffnen, ein komplexes Geflecht choreographischer Bezüge zwischen allen Teilnehmenden. Aus den Bewegungsvorschlägen der Karten – umgesetzt, interpretiert, aktiviert, variiert von den Teilnehmenden – entsteht eine gemeinsame choreographische Komposition, in der es erforderlich ist, auf die Aktionen der anderen Teilnehmenden zu achten. Erst so wird es möglich Handlungsvorschläge umzusetzen, die sich direkt auf Bewegungen anderer Teilnehmer beziehen. Aus (Re-)Aktionen entsteht so eine komplexe, mal dynamischere, mal langsamere Choreographie, die Ensemble-Situationen, Solos, Trios, partnerbezogene Handlungen und Duos herstellt und Bewegungskorrespondenzen und Rhythmen im Raum erzeugt. | Ausgestattet mit je einem Set beschriebener Karteikarten betritt eine Personengruppe einen Raum, der mit einer rechteckigen, grünen Teppichfläche ausgelegt ist. Jede Karte beinhaltet einen Handlungsvorschlag, den die Teilnehmenden im Laufe des nun folgenden ''Choreographischen Konzerts'' als Teil des "Entropischen Instituts" (deufert&plischke, Berlin 2012) ausführen können. Auch das Tauschen der Karten mit anderen Teilnehmenden ist möglich. In dem Moment, in dem die Gruppe den Raum betritt, werden sie zu Teilnehmenden, zu den Tänzern des Konzerts, das ohne sie nicht stattfinden kann und in dem sie frei sind, den Bewegungsaufforderungen zu folgen. Zuschauen als ausschließliche Funktion ist nicht vorgesehen, vielmehr erfordert das eigene Handeln als Umsetzung der Bewegungsvorschläge auf den Karten das genaue Zusehen und Beobachten der anderen Teilnehmenden im Raum. In den folgenden ca. 20 Minuten entwickelt sich aus den Bewegungsoptionen, die die Karten als Bewegungsmaterial eröffnen, ein komplexes Geflecht choreographischer Bezüge zwischen allen Teilnehmenden. Aus den Bewegungsvorschlägen der Karten – umgesetzt, interpretiert, aktiviert, variiert von den Teilnehmenden – entsteht eine gemeinsame choreographische Komposition, in der es erforderlich ist, auf die Aktionen der anderen Teilnehmenden zu achten. Erst so wird es möglich Handlungsvorschläge umzusetzen, die sich direkt auf Bewegungen anderer Teilnehmer beziehen. Aus (Re-)Aktionen entsteht so eine komplexe, mal dynamischere, mal langsamere Choreographie, die Ensemble-Situationen, Solos, Trios, partnerbezogene Handlungen und Duos herstellt und Bewegungskorrespondenzen und Rhythmen im Raum erzeugt. | ||
Im Rahmen des gemeinsam von allen im Raum Anwesenden hervorgebrachten choreographischen Konzerts als körperliche und kommunikative Verflechtung der Teilnehmenden erzeugt ''bewegen'' einen gemeinsamen Raum. ''Bewegen'' als künstlerisches Verfahren verbindet so alle Anwesenden als aufmerksam Beobachtende und (Re-)Agierende, und somit als Performende und Zuschauende in einem Re-Aktionsgeflecht, das durch die Handlungsvorschläge der Karteikarten als Bewegungsmaterial initiiert ist und notwendig Zusehen als aktive Haltung und Handlung setzt, die motorischer Aktivität vorausgeht. | Im Rahmen des gemeinsam von allen im Raum Anwesenden hervorgebrachten choreographischen Konzerts als körperliche und kommunikative Verflechtung der Teilnehmenden erzeugt ''bewegen'' einen gemeinsamen Raum. ''Bewegen'' als künstlerisches Verfahren verbindet so alle Anwesenden als aufmerksam Beobachtende und (Re-)Agierende, und somit als Performende und Zuschauende in einem Re-Aktionsgeflecht, das durch die Handlungsvorschläge der Karteikarten als Bewegungsmaterial initiiert ist und notwendig Zusehen als aktive Haltung und Handlung setzt, die motorischer Aktivität vorausgeht. | ||
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== '''Teilhaben''' == | == '''Teilhaben''' == |