Dokumentieren
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− | + | == '''Dokumentieren als Verfahren transdisziplinärer Forschung''' == | |
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+ | Dokumentarische Praxis wird auf vielfältige Weise in einer Reihe von Disziplinen für Forschungsprozesse herangezogen. | ||
+ | Bei juristischen, historischen und journalistischen Rechercheansätzen findet Dokumentieren im faktischen Sinne Verwendung, auf der Suche nach Evidenz, Beweisbarkeit und logische Rückführung in argumentativen Zusammenhängen.1 Hierbei fungieren die Qualitäten von Authentizität und Glaubwürdigkeit der genutzten Dokumente als notwendige Bedingung für Wissenschaftlichkeit. Traditionellerweise widmet sich die Geschichtswissenschaft dem Archivieren, Kategorisieren, Ordnen und Zusammenführen von Dokumenten zum Zweck der historischen „Wahrheitsfindung“. | ||
+ | In Anthropologie und Ethnologie wiederum, werden Praktiken des visuellen Dokumentierens zur Gedächtnisstütze der Beobachtung der Ethnologen verwendet, nutzen aber auch als Anlässe für Interviewpraktiken sowie zur Präsentation ethnologischer Forschungsergebnisse. | ||
+ | Im Rahmen der Diskurse über die „Krise der Repräsentation“ haben Medienwissenschaft, Cultural Studies und Visual Studies Überlegungen rund um das Dokumentieren um die notwendige Reflexion über die Bedingungen der Konstruiertheit von Dokumenten ergänzt und Dimensionen des „Authentischen“ in Frage gestellt. | ||
+ | Die Filmwissenschaft wiederum hat im Kontext der Begriffsbestimmung des Dokumentarfilm-Genres eine reichhaltige Auseinandersetzung mit dem Dokumentieren vorzuweisen, die traditionellerweise lange die Grenzen zwischen dem fiktivem Spielfilm und dem Non-fiktiven Film sowie mit ihrem jeweils unterschiedlichen Verhältnis zur Abbildung von Realität, beschäftigt war. Ähnliche Fragen stellen sich auch in den Bildwissenschaften in Bezug zur fotografischen Realität. | ||
+ | In der zeitgenössischen Kunst wird Dokumentieren spätestens seit dem „documentary turn“ rege diskutiert, wobei hier die reflexive Dimension, der fließende Übergang zwischen Fiktion und Dokumentarismus und das freie, kreative Arrangieren und Herstellen von Dokumenten im Vordergrund stehen. | ||
+ | Dem Dokumentieren als vermittelnde Medienpraxis wird bei Forschungsprozessen gemeinhin ein anderes Potential zur Wissensproduktion und -vermittlung zugesprochen als dem rationalen Logos der Sprache und des Textes. Das bestehe vor allem darin, dass bei Dokumenten eigene Wissenszugänge ermöglicht werden, der Betrachter in eine eigens gesteuerte interpretative Beziehung einbezogen sowie direkter an Gefühle und Erfahrungen herangeführt wird, ohne den Umweg über das rationale Verstehen.2 So wird in Diskursen der künstlerischen Forschung Dokumentieren, aufgrund seiner Eigenschaft des Oszillierens zwischen Wirklichkeitsbezug und -bearbeitung und ästhetisch-sinnlichen Dimensionen als Paradebeispiel künstlerischer Rechercheprozesse herangeführt.3 Schon aus dieser lediglich fragmentarischen Auflistung der Verwendung dokumentarischer Praxis in Forschungskontexten lässt sich folgern, dass das Verfahren des Dokumentierens geradezu prädestiniert ist für transdisziplinäre Forschungsprozesse, wo die – wenn auch sehr unterschiedlichen Verwendungen des Dokumentierens – aus verschiedenen epistemischen Logiken heraus zum Zuge kommen und sich ergänzen können. | ||
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+ | == '''Definition: Das Dokumentarische – eine definitorische Annäherung an ein aporetisches Projekt''' == | ||
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+ | "Historians and critiscs have frequently drawn attention to the difficulty of defining documentary that cannot be recognised as possesing a unique style, method or body of techniques.1''" | ||
+ | Dokumentarische Formen werfen seit jeher grundsätzliche definitorische Fragen auf. Wie und ob dokumentarische Praktiken, ihr eigentlich genuines Vermögen, ja ihre definitorische Legitimation, nämlich der Abbildung von Realität nachzukommen in der Lage sind, ist umstritten und gilt als noch nicht endgültig gelöst. Der Dokumentarfilmtheoretiker Brain Winston bezeichnet die Debatte sogar als „battlefield of epistemology“.2 | ||
+ | Idealtypisch seien im Folgenden die Argumentationen an den zwei Hauptfronten der Diskussion ausgebreitet, denn auch wenn harte dichotomische Grenzziehungen zwischen ihnen durch zeitgenössische Diskurse überholt ist, nimmt jede Auseinandersetzung um das Dokumentieren die Fäden der zwei Lager zur Positionsbestimmung stets wieder auf. | ||
+ | Der Charme des Dokumentarischen in seinen visuellen Spielarten, wie Fotografie oder Film, besteht in der Annahme einer indexikalischen Beziehung zwischen dem originären aufgefangenen Objekt und seiner Repräsentation/Abbildung. Diese Beziehung gibt vor zu garantieren, dass das „was gewesen-ist“ objektiv wiedergegeben werden kann und zwar indem sich die Spur der Realität durch die mechanischen und technischen Eigenschaften der dokumentarischen Medien als Abdruck ins Bild manifestiert, d.h. ohne menschlichen Eingriff wiedergegeben wird.3 Diese Haltung wird traditionellerweise den Anhängern des Realismus zugewiesen, die das Dokumentarische in der Nähe von Begriffen wie dem Faktischen, der Evidenz, von Beweis und Objektivität verorten. Für den Filmtheoretiker André Bazin etwa, fängt die Filmkamera die Realität objektiv ein und kann das Auge ersetzen. | ||
+ | Demgegenüber stehen konstruktivistische Lektüren, die seit den 70ern das dokumentarische Produkt als Ergebnis sozialer und kultureller Praktiken und Codes begreifen, die die dargestellte Wirklichkeit nach jeweiligen gesellschaftlichen Konventionen und Interessen opportunistisch konstruieren. Hinzu kommt, dass in postmodernen Ansätzen, nicht zuletzt im Baudrillardischen Entwurf des „Simulakrums“, die Idee der Existenz von objektiver Realität an sich in Zweifel gezogen wurde.4 Selbst der Versuch der Dokumentarfilmtheorie das Dokumentarische als das „Nonfiktionale“ zu greifen, scheitert insofern, dass jede Erzählung, nicht zuletzt im Prozess der Montage, fiktionalisiert und „irrealisiert“ ist. 5 | ||
+ | Doch das Paradoxe ist, dass diese in ihrer theoretischen Konsequenz legitimen Ansätze, die die „Gemachtheit“ und „Virtualität“ des Dokumentarischen bis zu seiner Negation, herausarbeiten, von der hartnäckigen Resistenz des Dokumentarischen ausgehebelt werden, da in der Praxis ein dokumentarische Form von einer rein konstruierten/fiktiven immer unterscheidbar ist – die eigensinnige Spur des Realen haftet an ihnen.6 Für Hito Steyerl sind somit, weder die eine noch die andere argumentative Strömung in der Lage überzeugend zu beschreiben, „warum dokumentarische Bilder eigentlich dokumentarisch sind“. Es hat sich in neuerer Zeit somit etabliert eher von der dokumentarischen Geste oder dem dokumentarischen Effekt zu sprechen.7 So denkt heute eine avancierte dokumentarische Praxis den Zweifel an ihre Produkte, als am Dokumentieren, immer | ||
+ | schon gleich mit und macht sie zum Gegenstand ihrer Reflexion und zwar womöglich nicht als Mangel sondern als ihre Haupteigenschaft, ihr Dilemma, ihr aporetisches a priori.8 | ||
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+ | == '''Dokumentarische Forschung in den Wissenschaften – das Dokument als Vehikel zur Datengewinnung und die Kriterien von „Wissenschaftlichkeit“''' == | ||
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+ | Erwähnt seien hier wissenschaftliche Ansätze, die Dokumente für eine systematische Sammlung von Daten und Fakten über ein soziales Phänomen heranziehen. Es handelt sich dabei weniger um das Dokumentieren als Forschungsverfahren, sondern um Methoden, die bereits existierende Dokumente in der Arbeit mit Quellen verwenden, wie bei Variationen der Sozialwissenschaften, der Kriminologie oder der Geschichtswissenschaft der Fall. Exemplarisch sei hier der Umgang mit Dokumenten in der Sozialwissenschaft ausgeführt. Darin wird etwa zwischen primären Dokumenten, die auf unmittelbare Zeugenschaft beruhen und sekundären Dokumenten mit vermittelter Zeugenschaft unterschieden. Der Kontext wäre hier der Zugang zu Information über vergangene Ereignisse. Der Ursprung der Dokumente muss dabei eindeutig, ihr ursprünglicher Zweck und Publikum klar sein. Für J. Scott, einen Verfechter der Anwendung dokumentarischer Methoden in den Sozialwissenschaften, können öffentliche Dokumente verwendet werden - wie Regierungspublikationen, statistische Studien, juristische Beweismaterialien - private Dokumente - wie Pressemitteilungen von Institutionen der Zivilgesellschaft, öffentliche Reden, Sitzungsprotokolle, journalistische Produkte, und Papiere und Berichte nicht-staatlicher Einrichtungen oder persönliche Dokumente heran gezogen werden, wie Adressbücher, Photoalben, Tagebücher, Selbstmordabschiedsbriefe, Briefe, Einkaufszettel etc.1 In allen Fällen müssen die verwendeten Dokumente wissenschaftlich systematisch geordnet und kategorisiert werden sowie Kriterien von Qualitätskontrollen genügen, die in der Regel entlang der Achsen von Authentizität, Glaubwürdigkeit, Repräsentativität und Bedeutung verlaufen. Das bedeutet das Dokument muss zu allererst genuin authentisch sein und einer verlässlichen Quelle entstammen, wofür der Forscher haftet und die Verantwortung trägt und zwar am besten indem der Autor des Dokuments identifiziert und verifiziert werden muss. Des Weiteren muss es glaubwürdig also frei von Manipulation sein, repräsentativ sein, also typisch für seine Art von Dokument, und sinnvoll, also klar und verständlich. | ||
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+ | == '''Dokumentieren in der visuellen Anthropologie und dem ethnologischen Film''' == | ||
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+ | Visuelle Aspekte von Kultur stehen im ethnologischen Film und der visuellen Anthropologie im Vordergrund. Denn Kultur manifestiert sich nicht zuletzt auch visuell und wird als solche zur Basis von Inszenierung und Kodierung von Verhalten. Visuelle Dokumente sind somit sowohl Gegenstand ethnologischer Forschung als auch Bestandteil ethnologischer Methoden und der Repräsentation ihrer Ergebnisse. In den 70ern entdeckte man das Medium Film, dem man, im Vergleich mit den subjektiven Feldnotizen der Ethnologen, das Potential zusprach das natürliche Leben unverfälscht mit der Kamera aufzufangen – fremde Kulturen und Rituale könnten so vor dem Untergang bewahrt und konserviert werden. Solche positivistischen Ansätze sind seit der Interpretativen Wende und der diskursiven Konjunktur der Repräsentationskritik zurückgedrängt worden. Nicht zuletzt sind mit dem Aufkommen postkolonialer Diskurse und der Kritik der Cultural Studies am „Othering“, also der stereotypen Objektivierung des „Anderen“ aus einem eurozentristischen Blick stark kritisiert worden14. Heute gilt es die Ausschnitthaftigkeit und die Positionierung sowie die Veränderung der Situation durch den Forschenden mitzudenken. Das zieht die Offenlegung von Methoden und die Relativierung von Repräsentations- und Interpretationsvermögen des Ethnologen mit sich, was das Vermögen der Dokumentation von „Wahrheitsabbildung“ wieder in Richtung subjektive Fiktion öffnet. Diskutiert wird dabei interessanterweise auch, inwiefern der Ethnologe durch das Nachgeben der Forderung von Reflexivität überhaupt noch den Prämissen von Wissenschaftlichkeit im Sinne von Evidenz und Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit nachkommen kann bzw inwiefern sich Reflexivität und Wissenschaft ausschließen (siehe auch oben Kriterien für valide Dokumente). 15 Visuelle Dokumente sind Gegenstand der visuellen Anthropologie insofern, dass sie als Primärmaterial einer semiotischen Analyse unterworfen werden mit der symbolhafte und bedeutungsgebende Praktiken eines sozialen Kontextes als „Text/Sprache“ bzw kulturelle Narration interpretiert werden. Die Ergebnisse so einer Analyse können auch in Form von Dokumenten präsentiert werden, z.B. in Form von Artefakt-Ausstellungen oder Forschungsfilmen, die aus bereits existierendem Footage produziert werden.16 Das Dokumentieren als Vermittlungspraxis von Forschungsergebnissen dabei in der Regel mit interpretativen textlichen Praktiken verknüpft. Des Weiteren werden visuelle Dokumente als Anlässe für Feldinterviews benutzt, in dem gemeinsam mit den Forschungsteilnehmenden Material gesichtet und darüber reflektiert wird. Eine weitere Feldforschungspraxis gibt Dokumente in Auftrag, um Material zu bekommen, das in Anwesenheit des Forschenden nicht zustande gekommen wäre. Mit der Digitalisierung und der simplen Handhabbarkeit von Aufnahmemedien ist letzteres leichter geworden, die Mischung von Bildern des Forschers mit denen der Informanten ist mittlerweile gängig. All diese Forschungsmethoden stellen weniger den Inhalt des Bildes oder die Intention des Produzenten, als den Herstellungskontext und die nachträgliche Rezeption in den Mittelpunkt – die Dokumente werden hier als Impuls-Geber für die Kommunikation mit dem Feld benutzt.17 | ||
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+ | == '''Das Dokumentarische in der Filmwissenschaft: ein Beispiel des engagierten, gesellschaftskritischen Impetus des Dokumentierens durch das emphatische Begehren nach Realitätsbezügen''' == | ||
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+ | Die Filmwissenschaft ist seit jeher mit der schwierigen Begriffsbestimmung des Dokumentarfilms beschäftigt. Dabei wird sie stets von den oben beschriebenen Aporien des Dokumentarischen heimgesucht, die hier nicht nochmals ausgebreitet werden. Wichtige Ansätze dokumentarischer Filmpraxis sollen jedoch die Ansprüche über den Funktion und Rolle des Dokumentierens exemplifizieren, im Sinne eines gesellschaftskritischen Impetus durch den Auftrag der Vermittlung und Verarbeitung von „Realität“. Als erste Dokumentarfilmtheorien werden exemplarisch Dziga Vertovs und John Griersons genannt, die traditionellerweise, die Existenz des Dokumentarischen in der Differenz zwischen Fiktion und Nicht-Fiktionalität begreifen. Beide Filmemacher versuchen sich an einer Bestimmung auf der Basis der Unterscheidung zum damals ideologisch übermächtigen fiktionalen Spielfilm und sprechen dem Dokumentarfilm, wegen dem spezifischen Wirklichkeitsbezug des Genres, eine interventionistische und sozial-engagierte Funktion zu – auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Unter dem Eindruck der revolutionären Avantgarden des Konstruktivismus, Futurismus, Biomechanik etc entwickelt Vertov die Bewegung des „Kinoki“ des „Kinoauges“. Seine „Filme der Fakten“ nehmen das Leben auf und organisieren es durch das Kameraauge und die Montage neu, so dass die Filmfakten eine neue Wahrnehmung auf die Realität freilegen, die durch das Auge nicht sichtbar ist. Nicht Wiedererkennen sondern Erkenntnis ist hier das Ziel, während die antirealistische Neuorganisierung des Materials revolutionär über die bestehende Gegenwart hinausweisen soll.18 Solche Absichten der Überwindung des Bestehenden durch dokumentarische Praxis finden sich in den Realismuskonzeptionen sämtlicher revolutionärer Avantgarden jener Zeit, wie etwa in den gleichzeitig entstandenen faktographischen Experimenten von Sergej Tetrjakov im Sinne einerÄsthetik der Transformation. Grierson wiederum ist von der neuen Macht der Sensationspresse der 20er Jahre beeinflusst und möchte mit einem pädagogischen Impetus durch Dramatisierung von Filmaufnahmen eine narrative Darstellung oder Geschichte (story) entwerfen. Der Zuschauer soll affiziert und gleichsam aufgeklärt werden, im Sinne demokratischer Partizipation und Konsensbildung in den instabilen Demokratien der 20/30er Jahre. Dieser dramatisierende Realismus mit Erziehungsauftrag ist später in das Selbstverständnis der öffentlich-rechtlichen Sender eingeflossen, findet sich im Gründungsstatut der BBC wieder und lässt sich zusammen denken mit den Bewegungen der sozialdokumentarischen Fotografie und der journalistischen Sozialreportagen jener Zeit (siehe z.B. britisches Thirties Movement etc).19 Im weiteren Sinne könnte ein Bogen geschlagen werden zum Fernsehdoku-drama und anderen journalistischen Formen wie der Fotoreportage oder dem Radiofeature. Der sozialkritische Impetus, durch Affinität zum Realismus, lässt sich weiterhin in den neorealistischen Strömungen der Nachkriegszeit wiederfinden, dem italienischen Neorealismus, der Bewegungen des cinema verité oder der des direct cinema, wo die leichte Handhabbarkeit neuer Kameras die spontanistischen Begehren einer unmittelbaren Aufnahme der Realität durch ein beobachtendes „Draufhalten“ Aufschwung gab (wohin). Die 60er und 70er spriessen natürlich von einer emphatischen Verbindung zum Realen, genannt seien hier nur die Doku-Essays von Chris Marker oder Jean Luc Godards Experimente in den französischen Banlieues mit seiner Dziga Vertov Group, wo Filme als Form kollektiver sozialer Kampfpraxis konzipiert werden sollten. Bei all diesen Beispielen dokumentarischer Praxis wird das komplexe Verhältnis zur Realität und ihrer medialen Verarbeitung und Repräsentation unterschiedlich beantwortet. Aus heutiger Sicht ist die Distanzierung zum Fiktiven nie wirklich gelungen, da das Dokumentarische immer gestaltende Elemente in sich vereinigt und damit nicht durch die Unterscheidung zu fiktionalen Formen bestimmt werden kann. Letzteres führt allerdings nicht notwendigerweise zu Unmöglichkeit einer Bezugnahme des Dokumentaristen zur Realität. Die Avantgarden des Realismus kämpfen seit jeher mit ständig sich erneuernden Konzeptionen des Wirklichkeitsbezugs, die sich je nach Stand des technischen und medialen Fortschritts sowie gesellschaftlicher und philosophischer Diskurse verändert haben. Daher wird vorgeschlagen nicht mehr um das „ob“ der realistischen Strategie zu streiten, sondern sich der ständigen Aushandlung von Realitätskonstruktionen als streitbare soziale Praxis zu widmen. Die dringende Frage, wie der Documenta 11 Kurator, es formuliert, wäre nicht die nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des dokumentarischen Realitätsbezugs, sondern die nach welchem Realismus, d.h. welche Art von sozialer, politischer und persönlicher Realität vorgeschlagen wird. 20 Die Freiheit mit der Realität als Variante des Fiktiven zu spielen und die Grenzübergänge zwischen ästhetischen und faktischen Aussagen zu verwischen, ist aber seit der Moderne natürlich der Kunst vorenthalten. (Zum Dokumentarischen Theater siehe Wikibeitrag „Bezeugen“ von Elise von Bernstorff) | ||
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+ | == '''Dokumentarismus in der Kunst – documentary turn''' == | ||
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+ | Seit Ende der 1990er Jahre erfreut sich das Dokumentieren einer regen Konjunktur im Kunstfeld, die gemeinhin auch als Paradigmenwechsel in Form eines „documentary turn“ ausgerufen wird. Das lässt sich nicht zuletzt entlang einer Reihe von Ausstellungen, Konferenzen und Symposien ablesen, beste Beispiele wären der Dokumentarismus-Schwerpunkt der Documenta 11 (2002), die Ausstellungen Reality Check (Hamburg 2002) oder After the Fact (Berlin 2005), die Einrichtung des „Berlin Documentary Forum“ seit 2010 bis zu Symposien wie „Dokumentarische Verfahren in der Kunst“ in der Kunsthochschule für Medien Köln am kommenden Wochenende. Üblicherweise wird diese Popularität zurückgeführt auf die Veränderung und Multiplizierung dokumentarischer Verfahren im Kontext der globalisierten Mediengesellschaft; auf die Veränderung des Kunstbegriffs im Sinne der Dematerialisierung des Objekts zu Gunsten von Konzept, Recherche und Aktion; sowie auf die jüngste Welle der Politisierung der Kunst, die aus einem engagierten und institutionskritischen Impetus heraus nach Transmissionsriemen zur Welt/Gesellschaft/Realität sucht. Das interessante in unserem Zusammenhang ist, dass die Freiheit der Kunst es möglich macht die Aporien des Dokumentarischen zuzuspitzen und zu sich kommen zu lassen: da hier auf den Anspruch auf wahrheitsgetreue Wirklichkeitsdarstellung zur Legitimierung des Dokumentierens verzichtet werden kann - anders z.B. als bei der Ethnologie oder dem Journalismus - kann die Kunst die Konstruiertheit des Dokuments intensivieren, um den Blick für seine Herstellungsbedingungen freizulegen und um ein möglichst doppeltes Wissen zu generieren: über seine informativen Gehalt sowie über seiner Gemachtheit.21 Die Kunst, sagte der Direktor des HKW, Bernd Scherer in seinem Anfangsvortrag des diesjährigen Berlin Documentary Forums, ist „das legitimierte Terrain“, dem vorbehalten ist mit der „Routine des Wahrnehmungsregimes zu brechen“, die andere Dokumentarismen oft wieder zu schließen bemüht sind, um verständliche Vermittlung zu garantieren. Zudem sind fließende Grenzüberschreitungen zwischen Fiktion und Dokumentation in der Kunst ein Gegebenes, das den Künstlern ermöglicht mit größerer Selbstverständlichkeit über das Faktische hinauszugehen. Die Strategien des Dokumentierens in der Kunst aufzuzählen und zu kategorisieren ist schwierig – sie bestehen aus Konstellationen aus verschiedenen Medien mit unterschiedlichen Authentizitätsgraden verwoben zu dokumentarischen Hybridformen: „Recent documentary works attest to a new diversity and complexity of forms, ranging from conceptual mocumentaries to reflexive photo essays vie split-screen, slide shows, found footage, video reportages, reenacted printed matter, and archeological collages.“22 Für die Künstlerische Leiterin des Berlin Documentary Forum, Hila Peleg, bestehen diese dokumentarischen Strategien „aus vielfachen Kollisionen von Zeichen, Referenten, Körpern, Hilfsmitteln, Räumen, Zeiten und Blicken“23. Und man könnte mit dem Begriff des „reflexiven Intervalls“, den Trinh T. Min-ha in Anlehnung an Dziga Vertov entwirft, die Herstellung von Bedeutung in den Zwischenräumen dieser Kollisionen, in der Beziehung zwischen Ton, Bild und Text und Artefakt suchen.24 (gutes Beispiel für eine solche Kollision ist Allan Sekulas Fish Story 1987-1995) Die Autorin, Julia Linda Schulze, legt in ihrem Buch „Jenseits des Faktischen“ nichts desto trotz ein interessanten Versuch der Kategorisierung vor: die hier destillierte Strategien sind eine ikonoklastische, die mit der „Geste des Nicht-Zeigens“ operiert; eine hyperrealistische, die mitÄsthetisierung und Dramatisierung das „Dokument als Spektakel“ befragt; eine archivierende, wo Ordnung und Kategorisierung praktiziert wird; und eine künstliche Dokumente erschaffende, wo Wahrheitspolitiken und blinde Flecke des Dokumentarischen thematisiert werden. Welche Strategie man auch immer als Ausgangspunkt nimmt – die Kunst hat bestenfalls das Vermögen Dokumentieren so zu praktizieren, dass neue Wahrnehmungen auf die Realität freigelegt werden und das Dokumentarische von seiner mimetischen Rolle befreit wird. Denn in Sicherheit ob der Gültigkeit unserer dokumentarischen Konstruktion können wir uns schließlich nie wiegen, so bleibt die parteiisch-ethische und offen persönliche Absicht das Refugium, in welchem wir mit Dokumentieren nicht einen Ist-Zustand festzuhalten, sondern einen Soll-Zustand herbeizuführen suchen: | ||
+ | Nur aus der Perspektive der Zukunft können wir eine kritische Distanz zurückerlangen, einer Zukunft, die Bilder aus der Verwicklung in Herrschaft entlässt. In diesem Sinne darf kritischer Dokumentarismus nicht das zeigen, was vorhanden ist – die Einbettung in jene Verhältnisse, die wir Realität nennen. Denn aus aus dieser Perspektive ist nur jenes Bild dokumentarisch, das zeigt, was noch gar nicht existiert und vielleicht einmal kommen kann.25 |