Anwenden
Aus A-Z der transziplinären Forschung
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− | + | == Kunst: Freiheit in Anwendung == | |
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+ | Auch wenn der Begriff Anwenden aufs erste Hören leicht verständlich klingt, muss man ihm mit Vorsicht nachgehen. Denn ist es nicht gerade so, dass nichts Neues ohne Anwendung eines Vorausgehenden passieren und entstehen kann? Das Paradox wird in der bildenden Kunst pointiert: Kunst ohne Anwendung von etwas Vorausgehendem - Welt, Geschichte, Medien - gibt es nicht. Aber zugleich ist etwas erst dann Kunst, wenn es die funktionale Anwendung durchbricht, sie unterläuft oder übersteigt. Erst dann kann sich Freiheit ereignen: positiv – in oder durch Anwendung. | ||
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+ | Die paradoxe, unauflösliche Verknüpfung von Anwendung und Freiheit ist vor allem deshalb zu betonen, weil die so genannte „freie Kunst“ sich mit und seit ihrer Autonomiesetzung stets gegen jeden Anwendungsbezug oder auch nur den Ruch der Anwendbarkeit gewehrt hat. Wenn man dagegen Freiheit in / durch Anwendung versteht, ist damit nicht nur der Spielraum in einem Anwendungsbereich gemeint, sondern radikaler behauptet, dass Freiheit sich nur aufgrund einer Anwendung und in einem Zusammenhang, der diese Anwendung erlaubt, und in einer Wendung an die anderen überhaupt ereignen kann, dass sie erfahren wird in der Rückwendung, in der Rück-Anwendung der anderen, des anderen. | ||
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+ | == Begriffsgeschichte == | ||
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+ | Schon die Begriffsgeschichte des Verbs Anwenden (1) ist kompliziert (kompliziert heißt ebenfalls nichts anderes als: verflochten, zusammengeflochten, in sich gewendet (von lat.: plectere)). Die Silbe Pli bedeutet im Französischen Falte – und taucht dort auch im Substantiv Application und in der Verbform in appliquer auf, die beide aus dem Lateinischen herreichen und eben Anwendung/Anwenden bedeuten. Auch im Deutschen ist der zweite Teil des Verbs der bedeutungsgebende: die Wende, das Wenden, die Wendung. Das An wurde zunächst sowohl im Sinn von "Sich Gegen jemanden wenden" (zum Beispiel gegen die Feinde wenden als „den Feind anwenden“) gebraucht als auch im Sinn von Verwenden (z.B. das Wasser anwenden, um das Feuer zu löschen). Und im Wortursprung stand laut Grimmschen Wörterbuch die Bedeutung "Sich-An-Jemanden-Wenden" im Vordergrund. Erst seit der Moderne reduzierte sich das Konnotationsfeld auf Anwenden im Sinne von Verwenden, ein Mittel zum Zweck nutzen. | ||
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+ | == Angewandte Kunst und Funktionslogik == | ||
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+ | In diesem Sinn und im Hinblick auf einen modernen "Anwendungszusammenhang" liest sich Begriff heute so: Man wendet ein Ding, eine Struktur, eine Maschine, ein Gesetz an, um etwas zu erzeugen, zu erzielen, zu erreichen, zu erfahren, zu erleichtern usf.. Wer von einem Anwendungszusammenhang spricht, meint zuerst, dass die Dinge oder Programme gerade nicht autonom und zweck- oder ziellos frei für sich stehen, sondern in Anwendungsfolgen aufeinander bezogen sind. Man wendet etwas an, was bereits da ist. Und umgekehrt gilt: Anwendbar ist das, was zur Anwendung zur Verfügung steht. Ein Stuhl steht zum Sitzen bereit, man setzt sich und steht wieder auf. In der Anwendung erfüllt sich der Zweck oder das Ziel des Anwendbaren. | ||
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+ | Die „angewandte Kunst“ ist dieser reduzierenden Lektüre gemäß eine Kunst, die einem Zweck dient. Sie wird entworfen, entwickelt und realisiert im Hinblick auf den Zweck, der sich in der Anwendung erfüllen soll. Die radikalste Formulierung zur Begründung einer Form und eines Gegenstands fand deshalb auch bis heute das Bauhaus mit einer Ornamentverzicht und Ökonomie der Mittel einfordernden Interpretation der Formel „form follows function“, die der amerikanische Architekt Louis Sullivan im ausgehenden 19. Jahrhundert meinte als "pervading law of all things organic and inorganic [...] of all true manifestations of the head" ableiten zu können.(1) Sie gibt für die Gestaltung eine scheinbar klare und logische Hierarchie vor: Wenn die Form der Funktion folgt, dann bestimmt und bedingt die Funktion die Form des Gegenstandes. Die Form ist nachgeordnet. Der Überschuss der Formen für Funktionen, den Kunst und Handwerk über Jahrhunderte hervorgebracht haben und der am deutlichsten im Ornament verkörpert ist, wurde so rigoros verworfen, um über die Funktion zu einer echteren, wahreren Form der Dinge zu gelangen. | ||
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+ | Aber die Begründung einer Form durch die Funktion eines Gegenstandes birgt ein doppeltes Problem: Sie bedeutet die Unterordnung aller Lebensbereiche und ihrer Ausformungen unter eine umfassende Funktionalität, die ihrerseits selbst nur metaphysisch begründet ist. Neben den bedauerlichen Effekten, dem Verlust des Exzesses und der Freiheit des Spiels und einer sukzessive freudloseren Gleichförmigkeit der Welt, bleibt am Ende auch die radikalste formale Askese in sich selbst vollkommen grundlos. Denn auch mit ihr kann nicht begründet und wahr beantwortet werden, warum überhaupt welche Zwecke gesetzt sind, für die anwendbare Dinge verwirklicht werden sollten. Ist eine Teekanne, ein Teppich, ein Garderobenhaken oder eine Kaffeemaschine ein (menschliches) Muss? | ||
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+ | Zudem ist die Sache hoffnungslos aus dem Ruder gelaufen: Die Deutung der Dinge über ihre Zweckdienlichkeit, ihre Brauchbarkeit hat gerade den offenbaren Wahnsinn unserer explodierten Dingwelt hervorgerufen. Das nennt man dann Anwendungs- oder Funktionsdifferenzierung. Man denke nur an die unterschiedlichen Kaffeedarreichungsformen und mit ihnen die unübersehbare Fülle der Maschinen, die sie zu produzieren versprechen. Alle unsere Wohnungen quellen über von den tausenden mehr oder weniger anwendbaren, dabei meist möglichst billig gestalteten Dingen. | ||
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+ | == Zweckfreiheit vs. Anwendung == | ||
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+ | Als Anfang der Neuzeit die Kunst gegen die Funktion und Anwendung abgegrenzt wurde, als Kant sie zweckfrei und autonom setzte, geschah dies in wohl begründeter Opposition zur funktionalen Indienstnahme, dabei jedoch auf der Basis eines transzendental verstandenen Genie- und Schönheitsbegriffs. Diese bilden das Herzstück der Autonomie der Kunst und die Rede von Zweckfreiheit und Autonomie macht entsprechend nur Sinn, solange man den Künstler als Offenbarer und das Kunstschöne als Offenbarung von etwas versteht. Gegenwärtige Debatten um die Zweckfreiheit der Kunst blenden diesen Aspekt meist aus und behelfen sich mit nebulösen Formulierungen über das "Wesen der Kunst" oder das Künstlerische der Kunst. Es ist jedoch so, dass eine zweckfreie Kunst ohne metaphysische Grundlegung am Ende bloß schön, bloß dekorativ, bloß hässlich oder bloß funktional sein kann. Entsprechend ist es kein Zufall, dass viele der heutigen Verfechter der Zweckfreiheitsthese pure Minimalismen und rationale Konzepte zur Untermauerung heranziehen. | ||
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+ | Doch selbst die bloß noch schöne oder hässliche zweckfreie Kunst, so lässt sich weiter argumentieren, zeigt sich erst in einem Anwendungszusammenhang. Man kann nämlich berechtigt einwerfen, dass Kunst doch ihr Publikum, d.h. ihre Öffentlichkeit habe: Der Kunstbetrieb mit seinen Ausbildungsorten, Ausstellungsräumen, Institutionen und Netzwerken, steht als gepflegter und geförderter Anwendungszusammenhang für Künstler/innen bereit. Er kann von ihnen aufgenommen und in all seinen Facetten – vom Museum über den Gallery Cube bis zur Off-Galerie – angewendet werden. Die Kunstautonomie, so ist hier anschließend zu folgern, gibt es in dieser Argumentation nur als Setzung auf der Basis des Kunstbetriebs und seiner Betriebsamkeit, d.h. eines funktionierenden Anwendungszusammenhangs, dem sich die restliche Welt und ihre drängenden Fragen mehr und mehr entziehen. | ||
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+ | Im Gegenzug zum tautologischen Pragmatismus einer Kunst als Kunst sind die unermüdlichen Versuche z.B. Lyotards zu sehen, die Kategorie des Erhabenen und das "Andere" der Kunst gegenüber dem Sozialen, dem Ökonomischen und Politischen zu retten. Hier lauert aber nicht nur die Gefahr einer weiteren Rückwendung zum Metaphysischen, sondern diese Denkspur führt letztlich ebenfalls zu einer Reduktion aufs Abstrakte, die reine Form und mündet in eine vergleichbare Sprachlosigkeit gegenüber dem Geschick der Welt, wie oben beschrieben, allein mit dem Unterschied, dass sie transzendental aufgeladen wird. | ||
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+ | == Öffnungen, Unvorhersehbares == | ||
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+ | Anwendung in einer dynamischen, nicht konzeptuell erfassbaren, offenen Verbindung mit Freiheit et vice versa zu denken, kann sowohl gegen die metaphysische Rückwendung und Wiederauflage des Geniebegriffs, der unterschwellig und unbewusst noch immer durch die Szenen geistert, als auch gegen die belanglose und banale Anwendungslogik ins Spiel gebracht werden. Denn wenn auch viele "künstlerische Anwendungen" glatt in den skizzierten Kunst–Anwendungszusammenhängen aufgehen, so passiert es doch immer auch wieder, dass die Besseren sie überschießen, durchbrechen, aufreiben, einen unerwarteten Überschuss produzieren und ein Freiheitsereignis zur Folge haben. Dieser Überschuss, dieses Freiheitsmoment, ist an sich nicht planbar, allein aber umsichtig und in Wendung an die anderen in seiner (unmöglichen) Möglichkeit vorbereitbar. | ||
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+ | Ein in Verbindung mit Freiheit entwickelter Begriff der Anwendung kann zudem Bewegung in die Begriffsfelder Aneignung, Partizipation oder Intervention bringen, da sie entweder statisch oder aneignend Besitz anmahnen oder anstreben oder in Besitz eingreifen wollen. Am Ende gehen die unter ihnen subsumierten künstlerischen Strategien zumeist auf die möglichst maximierte und möglichst gerechte Verteilung von Sichtbarkeiten, Mitsprache und Mitgestaltung, und sie versuchen dies durch erzieherische Maßnahmen als behauptete Demokratisierungsprozesse. Passt man Kunst jedoch in die Zielvorgabe einer gerechten Blickverteilung oder Weltverteilung oder bloß der Demokratisierung - wie es Rancière mit dem Begriff der Neuaufteilung des Sinnlichen trotz aller seiner Gegenbemühungen am Ende tut – entschwindet das Künstlerische in der positiv formulierten, politischen Zielvorgabe. | ||
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+ | Eine Deutung des Begriffs Anwendung in dynamischer Verbindung mit der Reflexion des Begriffs Freiheit, bzw. ein Verständnis von "Freiheit durch/in Anwendung" als Ereignis in Wendung an die anderen, kann dagegen die jeweils eigenen Anwendungszusammenhänge und Zielvorgaben deutlich hervortreten lassen und auf verborgene Konflikthaftigkeiten des eigenen Felds verweisen. (Überhaupt sollten die "kleinen" Begriffe Konflikt, Dialog und Streit viel öfter gegen den allseits nach wie vor beliebten Großbegriff Revolution ins Spiel kommen). Sie schärft ein Verstehen des Differenzfelds Kunst sowie der Differenz von Kunst und Stadtentwicklung. Sie hilft zu erfassen, wann und wo man etwas "nur" anwendet, wann man z.B. in vorgegebene Anwendungszusammenhänge zwar neue, fremde, z.B. künstlerische Strategien einbringt, sie dann aber denselben alten Anwendungen und Zielvorgaben unterwirft, Und sie führt schließlich zu dem Schluss, dass sich genuine künstlerische Freiheitsmomente innerhalb von Forschungs-, Entwicklungs-, d.h. Anwendungszusammenhängen ebenfalls nur unvorhersehbar ereignen können. | ||
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+ | == Bibliographie == | ||
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+ | * Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Stichwort: Anwenden. In: [[http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GA05207]], 21.11.12 | ||
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+ | * Louis H. Sullivan: The tall office building artistically considered. March 1896. In: [[http://academics.triton.edu/faculty/fheitzman/tallofficebuilding.html]], 21.11.12 | ||
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+ | [[Kategorie:Begriff]] |