Anwenden
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== Kunst: Freiheit in Anwendung == | == Kunst: Freiheit in Anwendung == | ||
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Die paradoxe, unauflösliche Verknüpfung von Anwendung und Freiheit ist vor allem deshalb zu betonen, weil die so genannte „freie Kunst“ sich mit und seit ihrer Autonomiesetzung stets gegen jeden Anwendungsbezug oder auch nur den Ruch der Anwendbarkeit gewehrt hat. Wenn man dagegen Freiheit in / durch Anwendung versteht, ist damit nicht nur der Spielraum in einem Anwendungsbereich gemeint, sondern radikaler behauptet, dass Freiheit sich nur aufgrund einer Anwendung und in einem Zusammenhang, der diese Anwendung erlaubt, und in einer Wendung an die anderen überhaupt ereignen kann, dass sie erfahren wird in der Rückwendung, in der Rück-Anwendung der anderen, des anderen. | Die paradoxe, unauflösliche Verknüpfung von Anwendung und Freiheit ist vor allem deshalb zu betonen, weil die so genannte „freie Kunst“ sich mit und seit ihrer Autonomiesetzung stets gegen jeden Anwendungsbezug oder auch nur den Ruch der Anwendbarkeit gewehrt hat. Wenn man dagegen Freiheit in / durch Anwendung versteht, ist damit nicht nur der Spielraum in einem Anwendungsbereich gemeint, sondern radikaler behauptet, dass Freiheit sich nur aufgrund einer Anwendung und in einem Zusammenhang, der diese Anwendung erlaubt, und in einer Wendung an die anderen überhaupt ereignen kann, dass sie erfahren wird in der Rückwendung, in der Rück-Anwendung der anderen, des anderen. | ||
− | + | == Begriffsgeschichte == | |
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Schon die Begriffsgeschichte des Verbs Anwenden (1) ist kompliziert (kompliziert heißt ebenfalls nichts anderes als: verflochten, zusammengeflochten, in sich gewendet (von lat.: plectere)). Die Silbe Pli bedeutet im Französischen Falte – und taucht dort auch im Substantiv Application und in der Verbform in appliquer auf, die beide aus dem Lateinischen herreichen und eben Anwendung/Anwenden bedeuten. Auch im Deutschen ist der zweite Teil des Verbs der bedeutungsgebende: die Wende, das Wenden, die Wendung. Das An wurde zunächst sowohl im Sinn von "Sich Gegen jemanden wenden" (zum Beispiel gegen die Feinde wenden als „den Feind anwenden“) gebraucht als auch im Sinn von Verwenden (z.B. das Wasser anwenden, um das Feuer zu löschen). Und im Wortursprung stand laut Grimmschen Wörterbuch die Bedeutung "Sich-An-Jemanden-Wenden" im Vordergrund. Erst seit der Moderne reduzierte sich das Konnotationsfeld auf Anwenden im Sinne von Verwenden, ein Mittel zum Zweck nutzen. | Schon die Begriffsgeschichte des Verbs Anwenden (1) ist kompliziert (kompliziert heißt ebenfalls nichts anderes als: verflochten, zusammengeflochten, in sich gewendet (von lat.: plectere)). Die Silbe Pli bedeutet im Französischen Falte – und taucht dort auch im Substantiv Application und in der Verbform in appliquer auf, die beide aus dem Lateinischen herreichen und eben Anwendung/Anwenden bedeuten. Auch im Deutschen ist der zweite Teil des Verbs der bedeutungsgebende: die Wende, das Wenden, die Wendung. Das An wurde zunächst sowohl im Sinn von "Sich Gegen jemanden wenden" (zum Beispiel gegen die Feinde wenden als „den Feind anwenden“) gebraucht als auch im Sinn von Verwenden (z.B. das Wasser anwenden, um das Feuer zu löschen). Und im Wortursprung stand laut Grimmschen Wörterbuch die Bedeutung "Sich-An-Jemanden-Wenden" im Vordergrund. Erst seit der Moderne reduzierte sich das Konnotationsfeld auf Anwenden im Sinne von Verwenden, ein Mittel zum Zweck nutzen. | ||
− | + | == Angewandte Kunst und Funktionslogik == | |
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In diesem Sinn und im Hinblick auf einen modernen "Anwendungszusammenhang" liest sich Begriff heute so: Man wendet ein Ding, eine Struktur, eine Maschine, ein Gesetz an, um etwas zu erzeugen, zu erzielen, zu erreichen, zu erfahren, zu erleichtern usf.. Wer von einem Anwendungszusammenhang spricht, meint zuerst, dass die Dinge oder Programme gerade nicht autonom und zweck- oder ziellos frei für sich stehen, sondern in Anwendungsfolgen aufeinander bezogen sind. Man wendet etwas an, was bereits da ist. Und umgekehrt gilt: Anwendbar ist das, was zur Anwendung zur Verfügung steht. Ein Stuhl steht zum Sitzen bereit, man setzt sich und steht wieder auf. In der Anwendung erfüllt sich der Zweck oder das Ziel des Anwendbaren. | In diesem Sinn und im Hinblick auf einen modernen "Anwendungszusammenhang" liest sich Begriff heute so: Man wendet ein Ding, eine Struktur, eine Maschine, ein Gesetz an, um etwas zu erzeugen, zu erzielen, zu erreichen, zu erfahren, zu erleichtern usf.. Wer von einem Anwendungszusammenhang spricht, meint zuerst, dass die Dinge oder Programme gerade nicht autonom und zweck- oder ziellos frei für sich stehen, sondern in Anwendungsfolgen aufeinander bezogen sind. Man wendet etwas an, was bereits da ist. Und umgekehrt gilt: Anwendbar ist das, was zur Anwendung zur Verfügung steht. Ein Stuhl steht zum Sitzen bereit, man setzt sich und steht wieder auf. In der Anwendung erfüllt sich der Zweck oder das Ziel des Anwendbaren. | ||
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− | + | == Zweckfreiheit vs. Anwendung == | |
Als Anfang der Neuzeit die Kunst gegen die Funktion und Anwendung abgegrenzt wurde, als Kant sie zweckfrei und autonom setzte, geschah dies in wohl begründeter Opposition zur funktionalen Indienstnahme, dabei jedoch auf der Basis eines transzendental verstandenen Genie- und Schönheitsbegriffs. Diese bilden das Herzstück der Autonomie der Kunst und die Rede von Zweckfreiheit und Autonomie macht entsprechend nur Sinn, solange man den Künstler als Offenbarer und das Kunstschöne als Offenbarung von etwas versteht. Gegenwärtige Debatten um die Zweckfreiheit der Kunst blenden diesen Aspekt meist aus und behelfen sich mit nebulösen Formulierungen über das "Wesen der Kunst" oder das Künstlerische der Kunst. Es ist jedoch so, dass eine zweckfreie Kunst ohne metaphysische Grundlegung am Ende bloß schön, bloß dekorativ, bloß hässlich oder bloß funktional sein kann. Entsprechend ist es kein Zufall, dass viele der heutigen Verfechter der Zweckfreiheitsthese pure Minimalismen und rationale Konzepte zur Untermauerung heranziehen. | Als Anfang der Neuzeit die Kunst gegen die Funktion und Anwendung abgegrenzt wurde, als Kant sie zweckfrei und autonom setzte, geschah dies in wohl begründeter Opposition zur funktionalen Indienstnahme, dabei jedoch auf der Basis eines transzendental verstandenen Genie- und Schönheitsbegriffs. Diese bilden das Herzstück der Autonomie der Kunst und die Rede von Zweckfreiheit und Autonomie macht entsprechend nur Sinn, solange man den Künstler als Offenbarer und das Kunstschöne als Offenbarung von etwas versteht. Gegenwärtige Debatten um die Zweckfreiheit der Kunst blenden diesen Aspekt meist aus und behelfen sich mit nebulösen Formulierungen über das "Wesen der Kunst" oder das Künstlerische der Kunst. Es ist jedoch so, dass eine zweckfreie Kunst ohne metaphysische Grundlegung am Ende bloß schön, bloß dekorativ, bloß hässlich oder bloß funktional sein kann. Entsprechend ist es kein Zufall, dass viele der heutigen Verfechter der Zweckfreiheitsthese pure Minimalismen und rationale Konzepte zur Untermauerung heranziehen. | ||
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− | + | == Öffnungen, Unvorhersehbares == | |
Anwendung in einer dynamischen, nicht konzeptuell erfassbaren, offenen Verbindung mit Freiheit et vice versa zu denken, kann sowohl gegen die metaphysische Rückwendung und Wiederauflage des Geniebegriffs, der unterschwellig und unbewusst noch immer durch die Szenen geistert, als auch gegen die belanglose und banale Anwendungslogik ins Spiel gebracht werden. Denn wenn auch viele "künstlerische Anwendungen" glatt in den skizzierten Kunst–Anwendungszusammenhängen aufgehen, so passiert es doch immer auch wieder, dass die Besseren sie überschießen, durchbrechen, aufreiben, einen unerwarteten Überschuss produzieren und ein Freiheitsereignis zur Folge haben. Dieser Überschuss, dieses Freiheitsmoment, ist an sich nicht planbar, allein aber umsichtig und in Wendung an die anderen in seiner (unmöglichen) Möglichkeit vorbereitbar. | Anwendung in einer dynamischen, nicht konzeptuell erfassbaren, offenen Verbindung mit Freiheit et vice versa zu denken, kann sowohl gegen die metaphysische Rückwendung und Wiederauflage des Geniebegriffs, der unterschwellig und unbewusst noch immer durch die Szenen geistert, als auch gegen die belanglose und banale Anwendungslogik ins Spiel gebracht werden. Denn wenn auch viele "künstlerische Anwendungen" glatt in den skizzierten Kunst–Anwendungszusammenhängen aufgehen, so passiert es doch immer auch wieder, dass die Besseren sie überschießen, durchbrechen, aufreiben, einen unerwarteten Überschuss produzieren und ein Freiheitsereignis zur Folge haben. Dieser Überschuss, dieses Freiheitsmoment, ist an sich nicht planbar, allein aber umsichtig und in Wendung an die anderen in seiner (unmöglichen) Möglichkeit vorbereitbar. |