Beschreiben

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'''BESCHREIBEN'''
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'''==BESCHREIBEN=='''
  
  
Die Tätigkeit des Beschreibens kann in vieler Hinsicht als ein produktives Verfahren im Bereich transdisziplinärer Forschung angesehen werden. In seiner konjugierbaren Veränderbarkeit stellt das Verb beschreiben gleich mehrere Vorgänge und Zustände dar: sowohl schriftliche als auch mündliche, sowohl persönliche als auch kollektive, sowohl intentionale als auch materielle. Allerdings geht es in den folgenden Ausführungen weniger um theoretische Konzepte und wissenschaftliche Methoden, als um verschiedene konkrete Ansätze, die insbesondere in der Praxis der performativen Künste angewendet werden. Im Zentrum steht dabei sowohl die Darstellung exemplarischer Einzelfälle als auch die Ethik die jeweils dem Akt des Beschreibens zugrunde liegt. Ähnlich wie bei der von Clifford Geertz für die ethnologische Feldforschung begründete ’Dichte Beschreibung’ (thick description) ist keiner der praktischen Ansätzen darauf aus, universalistische Aussagen zu treffen, vielmehr soll mit Hilfe qualitativer Beobachtung und Analyse kultureller Systeme gerade das ’lokale Wissen’ anerkannt und beschrieben werden.1 Gehandelt wird nach einem offenen Kulturbegriff, bei dem soziale und kulturelle Phänomene ständig neuen Interpretationen unterliegen und ihre Deutung (oder vielmehr ihre zeichenhafte Bedeutung) jeweils untrennbar mit einem spezifischen Kontext und einer bestimmten Perspektive verbunden ist.
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Die Tätigkeit des Beschreibens kann in vieler Hinsicht als ein produktives Verfahren im Bereich transdisziplinärer Forschung angesehen werden. In seiner konjugierbaren Veränderbarkeit stellt das Verb beschreiben gleich mehrere Vorgänge und Zustände dar: sowohl schriftliche als auch mündliche, sowohl persönliche als auch kollektive, sowohl intentionale als auch materielle. Allerdings geht es in den folgenden Ausführungen weniger um theoretische Konzepte und wissenschaftliche Methoden, als um verschiedene konkrete Ansätze, die insbesondere in der Praxis der performativen Künste angewendet werden. Im Zentrum steht dabei sowohl die Darstellung exemplarischer Einzelfälle als auch die Ethik die jeweils dem Akt des Beschreibens zugrunde liegt. Ähnlich wie bei der von Clifford Geertz für die ethnologische Feldforschung begründete ’Dichte Beschreibung’ (thick description) ist keiner der praktischen Ansätzen darauf aus, universalistische Aussagen zu treffen, vielmehr soll mit Hilfe qualitativer Beobachtung und Analyse kultureller Systeme gerade das ’lokale Wissen’ anerkannt und beschrieben werden. <ref>Vergl. Geertz, Clifford (1973): Thick Description, Toward an Interpretive Theory of Culture. In: Ders., The Interpretation of Culture, Selected essays, New York, S. 3-30.</ref> Gehandelt wird nach einem offenen Kulturbegriff, bei dem soziale und kulturelle Phänomene ständig neuen Interpretationen unterliegen und ihre Deutung (oder vielmehr ihre zeichenhafte Bedeutung) jeweils untrennbar mit einem spezifischen Kontext und einer bestimmten Perspektive verbunden ist.
  
  
 
'''1 Bezugspunkt, Sprache, Existenz'''
 
'''1 Bezugspunkt, Sprache, Existenz'''
  
Ein großer Tisch beim Felix Meritis Theater unterm Dach, mit Aussicht auf Amsterdam. Eine Art Klausur. Vielleicht sogar eine Zäsur. Es gibt nur diese Vermutung dass etwas Neues passiert, dass sich das Theater sich auf neuartige Weise offenbart, neue Dramaturgien erforscht. So fremd, so anders, dass noch kaum darüber gesprochen werden kann. Dass auf jeden Fall die bisher nützlichen Worte unzureichend erscheinen und aufgehört haben zu funktionieren. In Amsterdam, in Berlin, in Frankfurt, in Wien und vor allem auch in Brüssel, überall da wo seit geraumer Zeit Europäisch koproduziert wurde und wo das einschlägige Fachblatt Theaterschrift gewirkt hat.2 Beteiligt sind die Vertreter einer neuen Generation: Marianne van Kerkhoven, Knut Ove Arntzen, Dragan Klaiç, Josette Féral, Jean-Marc Adolphe, Ritsaert ten Cate, Erwin Jans... und auch Hans-Thies Lehmann, der 1993 noch wie alle mit den Begriffen ringt und sich noch nicht auf diesen einen festgelegt hat.  
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Ein großer Tisch beim Felix Meritis Theater unterm Dach, mit Aussicht auf Amsterdam. Eine Art Klausur. Vielleicht sogar eine Zäsur. Es gibt nur diese Vermutung dass etwas Neues passiert, dass sich das Theater sich auf neuartige Weise offenbart, neue Dramaturgien erforscht. So fremd, so anders, dass noch kaum darüber gesprochen werden kann. Dass auf jeden Fall die bisher nützlichen Worte unzureichend erscheinen und aufgehört haben zu funktionieren. In Amsterdam, in Berlin, in Frankfurt, in Wien und vor allem auch in Brüssel, überall da wo seit geraumer Zeit Europäisch koproduziert wurde und wo das einschlägige Fachblatt Theaterschrift gewirkt hat.<ref>Theaterschrift ist eine viersprachige Publikation, die von 1993-1998 unter redaktioneller Leitung von Marianne van Kerkhoven von mehreren europäischen Koproduzenten herausgegeben wurde: Kaaitheater/Brüssel, Hebbel Theater/Berlin, Theater am Turm/Frankfurt am Main, Felix Meritis/Amsterdam, Wiener Festwochen/Wien.</ref>. Beteiligt sind die Vertreter einer neuen Generation: Marianne van Kerkhoven, Knut Ove Arntzen, Dragan Klaiç, Josette Féral, Jean-Marc Adolphe, Ritsaert ten Cate, Erwin Jans... und auch Hans-Thies Lehmann, der 1993 noch wie alle mit den Begriffen ringt und sich noch nicht auf diesen einen festgelegt hat.  
  
 
Es herrscht viel Schweigen, Ansätze werden ausprobiert. Man hat Zeit, und eigentlich kein Ziel, nur den Wunsch nach einer Form. Die Idee war schließlich einfach. Man wird sich auf die Suche machen nach einem neuen Vokabular, neuen Stichwörtern und Denkbildern. Spielerisch, subjektiv, aufgereiht, eingesammelt, unredigiert. Es gilt ein offenes Wörterbuch zu erstellen, in dem alle Betrachtungen nebeneinander bestehen dürfen und alles gezeigt werden kann. Die einzige Prämisse ist: es muss beschrieben werden WAS IST und nicht – ex negativo - was NICHT ist. Kein Anti-Theater. Sondern selbstbewusste Behauptungen. Anschließend gab es Vieles. Erfindungen und Neuinterpretationen. Versuche und Definitionen. Absence zum Beispiel. „With it maybe the following words might be added: respect, sensuality, homework, subtlety, tenderness, calmth, dignity, patience. Warmly recommended.“ (Ten Cate 1994: 37)
 
Es herrscht viel Schweigen, Ansätze werden ausprobiert. Man hat Zeit, und eigentlich kein Ziel, nur den Wunsch nach einer Form. Die Idee war schließlich einfach. Man wird sich auf die Suche machen nach einem neuen Vokabular, neuen Stichwörtern und Denkbildern. Spielerisch, subjektiv, aufgereiht, eingesammelt, unredigiert. Es gilt ein offenes Wörterbuch zu erstellen, in dem alle Betrachtungen nebeneinander bestehen dürfen und alles gezeigt werden kann. Die einzige Prämisse ist: es muss beschrieben werden WAS IST und nicht – ex negativo - was NICHT ist. Kein Anti-Theater. Sondern selbstbewusste Behauptungen. Anschließend gab es Vieles. Erfindungen und Neuinterpretationen. Versuche und Definitionen. Absence zum Beispiel. „With it maybe the following words might be added: respect, sensuality, homework, subtlety, tenderness, calmth, dignity, patience. Warmly recommended.“ (Ten Cate 1994: 37)
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'''3 Antiautoritär und basisdemokratisch'''
 
'''3 Antiautoritär und basisdemokratisch'''
  
Noch einmal soll in Anlehnung an die topografische Lagebeschreibung (wie etwa von Müller vorgeführt) die Frage nach der Position des Betrachters gestellt werden. Der englische Theatermacher und Performance Studies Professor Mike Pearson unterscheidet in seinem Buch „In Comes I“: Performance, Memory and Landscape zwischen dem distanzierten Beobachter und dem engagierten Insider, der ein grundsätzlich anderes Verhältnis zu seinem Objekt entwickelt hat, sei es ein Ort, eine Erinnerung, oder eine Situation.3 Bereits in seiner Studie Theatre/Archeology hebt Pearson die Bedeutung der persönlichen Erzählung von Zeitzeugen hervor und zweifelt an der Darstellbarkeit eines großen Ganzen: „Could documentation be more a collage of these deep but fragmented observations, rather than ‘the big picture’?” (Pearson/Shanks 2001: 63) Selbst hat er zusammen mit dem Archäologen Michael Shanks ein Verfahren zur performativen Ortsbestimmung entwickelt, das sogenannte „Deep Mapping“, das als Lecture Performance verschiedene Genres und Medien miteinander kombiniert. „Theatre/Archaeology becomes part of an integrated, social and political practice active in the creation of personal, communal, local and national identities, a practice unafraid to be sensual, interpretive, romantic.” (Pearson/Shanks 2001: 162)
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Noch einmal soll in Anlehnung an die topografische Lagebeschreibung (wie etwa von Müller vorgeführt) die Frage nach der Position des Betrachters gestellt werden. Der englische Theatermacher und Performance Studies Professor Mike Pearson unterscheidet in seinem Buch „In Comes I“: Performance, Memory and Landscape zwischen dem distanzierten Beobachter und dem engagierten Insider, der ein grundsätzlich anderes Verhältnis zu seinem Objekt entwickelt hat, sei es ein Ort, eine Erinnerung, oder eine Situation.<ref>Vergl. Pearson, Mike (2007): „In Comes I“: Performance, Memory and Landscape", Exeter.</ref> Bereits in seiner Studie Theatre/Archeology hebt Pearson die Bedeutung der persönlichen Erzählung von Zeitzeugen hervor und zweifelt an der Darstellbarkeit eines großen Ganzen: „Could documentation be more a collage of these deep but fragmented observations, rather than ‘the big picture’?” (Pearson/Shanks 2001: 63) Selbst hat er zusammen mit dem Archäologen Michael Shanks ein Verfahren zur performativen Ortsbestimmung entwickelt, das sogenannte „Deep Mapping“, das als Lecture Performance verschiedene Genres und Medien miteinander kombiniert. „Theatre/Archaeology becomes part of an integrated, social and political practice active in the creation of personal, communal, local and national identities, a practice unafraid to be sensual, interpretive, romantic.” (Pearson/Shanks 2001: 162)
  
 
Sehen ist also eine Frage der Perspektive. Und jeder sieht einzeln. Vor kurzem hat der amerikanische Kunsthistoriker Terry Barrett den angehenden Kunstpädagogen an der Amsterdamer Kunsthochschule eine provozierende Methode vorgeschlagen. Sie sollten doch endlich als allwissende Autorität zurücktreten und stattdessen Kinder, Schüler oder Museumsbesucher ermutigen, sich von ihnen zu emanzipieren und bei der Betrachtung von Kunstwerken ihrer eigenen Wahrnehmung zu vertrauen. An die Stelle des herkömmlichen Unterrichts soll seiner Ansicht nach ab sofort eine sokratisches Gespräch treten, bei dem jegliche Bewertung der Beobachtung außen vor bleibt und Barrett unermüdlich fragt: „What do you see? What does it mean? How do you know?“ (Barrett 2010: 142)
 
Sehen ist also eine Frage der Perspektive. Und jeder sieht einzeln. Vor kurzem hat der amerikanische Kunsthistoriker Terry Barrett den angehenden Kunstpädagogen an der Amsterdamer Kunsthochschule eine provozierende Methode vorgeschlagen. Sie sollten doch endlich als allwissende Autorität zurücktreten und stattdessen Kinder, Schüler oder Museumsbesucher ermutigen, sich von ihnen zu emanzipieren und bei der Betrachtung von Kunstwerken ihrer eigenen Wahrnehmung zu vertrauen. An die Stelle des herkömmlichen Unterrichts soll seiner Ansicht nach ab sofort eine sokratisches Gespräch treten, bei dem jegliche Bewertung der Beobachtung außen vor bleibt und Barrett unermüdlich fragt: „What do you see? What does it mean? How do you know?“ (Barrett 2010: 142)
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'''4 Spielerische Materialisierung'''
 
'''4 Spielerische Materialisierung'''
  
Dass (vor allem verbale) Beschreibungen nicht immer unberührt und unangetastet bleiben müssen zeigt eine Art Umkehrschluss, der Versuch einer spielerischen Materialisierung intellektueller Beiträge. Eine weitere Konferenz, wieder Künstler, Dramaturgen und Wissenschaftler an einem Tisch. Diesmal wird gefragt: was kommt nach dem postdramatischen Theater, After Theatre? Und dabei wird so ganz nebenbei die Bedeutung der Wörter enthierarchisiert. Vorträge, Statements, Diskussionen zerfallen als Live-Blog willentlich in 2421 Stichwörter, und bilden als visualisierte Database wieder neue Inhalte ab. Das neuartige <Anarchive/> entzieht sich der ursprünglichen Intention der Konferenz und erschließt bisher ungestellte Fragen: Wer kam am meisten zu Wort? In welchen Städten waren die Sprecher zuhause? Welche Wörter wurden am meisten wiederholt? Welche Sprache war vorherrschend? Und schließlich, in welcher Zeitform haben sich die Teilnehmer ausgedrückt? Habe sie sich vor allem in der Gegenwart aufgehalten, der Vergangenheit, oder der Zukunft?4
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Dass (vor allem verbale) Beschreibungen nicht immer unberührt und unangetastet bleiben müssen zeigt eine Art Umkehrschluss, der Versuch einer spielerischen Materialisierung intellektueller Beiträge. Eine weitere Konferenz, wieder Künstler, Dramaturgen und Wissenschaftler an einem Tisch. Diesmal wird gefragt: was kommt nach dem postdramatischen Theater, After Theatre? Und dabei wird so ganz nebenbei die Bedeutung der Wörter enthierarchisiert. Vorträge, Statements, Diskussionen zerfallen als Live-Blog willentlich in 2421 Stichwörter, und bilden als visualisierte Database wieder neue Inhalte ab. Das neuartige <Anarchive/> entzieht sich der ursprünglichen Intention der Konferenz und erschließt bisher ungestellte Fragen: Wer kam am meisten zu Wort? In welchen Städten waren die Sprecher zuhause? Welche Wörter wurden am meisten wiederholt? Welche Sprache war vorherrschend? Und schließlich, in welcher Zeitform haben sich die Teilnehmer ausgedrückt? Habe sie sich vor allem in der Gegenwart aufgehalten, der Vergangenheit, oder der Zukunft? <ref><Anarchive/>’ war Teil der Konferenz ‘Na(ar) het theater, After Theatre?’ und wurde anschliessend als Publikation veröffentlicht: Hoogenboom, Marijke und Karschnia, Alexander (Hg.) (2007): Na(ar) het theater, After Theatre?, Supplements to the international conference on postdramatic theatre, Amsterdam. www.ahk.nl/lectoraten/kunstpraktijk/coproducties-en-projecten/after-theatre/
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www.nielsschrader.de/anarchivcont.html</ref>
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Die Zusammenfassung einer Konferenz als automatisierte Übermalung, macht das Sinn? Zumindest bietet eine solche Anschreibung, Unterschreibung, Verschreibung, Umschreibung, Abschreibung, Beschreibung eine offene, anschauliche Alternative.
 
Die Zusammenfassung einer Konferenz als automatisierte Übermalung, macht das Sinn? Zumindest bietet eine solche Anschreibung, Unterschreibung, Verschreibung, Umschreibung, Abschreibung, Beschreibung eine offene, anschauliche Alternative.
  
  
  
'''Bibliographie'''
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'''==Bibliographie=='''
  
 
Barrett, Terry (Hg.) (2010): Art works, People respond to contemporary art, Deventer/Amsterdam.
 
Barrett, Terry (Hg.) (2010): Art works, People respond to contemporary art, Deventer/Amsterdam.
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'''Anmerkungen'''
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'''==Anmerkungen=='''
 
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1 Vergl. Geertz, Clifford (1973): Thick Description, Toward an Interpretive Theory of Culture. In: Ders., The Interpretation of Culture, Selected essays, New York, S. 3-30.
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2 Theaterschrift ist eine viersprachige Publikation, die von 1993-1998 unter redaktioneller Leitung von Marianne van Kerkhoven von mehreren europäischen Koproduzenten herausgegeben wurde: Kaaitheater/Brüssel, Hebbel Theater/Berlin, Theater am Turm/Frankfurt am Main, Felix Meritis/Amsterdam, Wiener Festwochen/Wien.
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3 Vergl. Pearson, Mike (2007): „In Comes I“: Performance, Memory and Landscape, Exeter.
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4 <Anarchive/>’ war Teil der Konferenz ‘Na(ar) het theater, After Theatre?’ und wurde anschliessend als Publikation veröffentlicht: Hoogenboom, Marijke und Karschnia, Alexander (Hg.) (2007): Na(ar) het theater, After Theatre?, Supplements to the international conference on postdramatic theatre, Amsterdam. [www.ahk.nl/lectoraten/kunstpraktijk/coproducties-en-projecten/after-theatre/]
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[www.nielsschrader.de/anarchivcont.html]
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Anmerkungen
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<references/>

Version vom 10. September 2012, 10:49 Uhr

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